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Ein Leitfaden zum AI Act: Wie die EU KI regulieren will und was das für uns alle bedeutet

Die EU will Künstliche Intelligenz (KI) über alle Bereiche hinweg regulieren. In diesem hart umkämpften Prozess stehen die Interessen großer Tech-Konzerne denjenigen gegenüber, die für Grundrechte und die Interessen der Bevölkerung kämpfen. In diesem Leitfaden erklären wir, wozu das neue Gesetz da ist, warum wir alle davon betroffen sind und welche Systeme bald verboten werden könnten.

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26. September 2022 (Update: 15. August 2023)

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Algorithmische Systeme werden immer häufiger in allen Lebensbereichen eingesetzt – die Umstände bleiben aber oft im Dunklen. Ihre automatisierten Entscheidungen können Leben auf den Kopf stellen: etwa wenn ein algorithmisches System fälschlicherweise den Missbrauch von Sozialleistungen meldet und damit Menschen in den finanziellen Ruin treibt, wenn Studienplätze wegen eines intransparenten und diskriminierenden algorithmischen Bewertungssystems zurückgezogen werden oder wenn Arbeitgeber ihre Mitarbeiter*innen strafrechtlich belangen, weil ein Fehler im System sagt, dass Geld in der Kasse fehlt.

Die Antwort der Europäischen Union auf solche Risiken Künstlicher Intelligenz ist der Artificial Intelligence Act (AI Act). Mit dem Gesetz will die EU eine rechtliche Grundlage für die Entwicklung und den Einsatz von KI legen, um mögliche Schäden durch KI abzuwenden oder zu minimieren. Außerdem sollen mit dem AI Act in der gesamten EU einheitliche Regeln für den KI-Markt eingeführt werden, damit die Technologie in der EU besser Fuß fassen kann.

Der Entwurf der EU-Kommission zum AI Act diente als Verhandlungsgrundlage zwischen dem EU-Parlament und dem EU-Rat. Der Rat hat seine Version des AI Act, die sogenannte allgemeine Ausrichtung, Ende 2022 angenommen. Im Juni 2023 verständigten sich die Mitglieder des EU-Parlaments auf eine gemeinsame Position. Die drei Institutionen haben danach die sogenannten Trilog-Verhandlungen aufgenommen. Daraus soll bis Ende 2023 eine abschließende Fassung des Gesetzes hervorgehen.  

Hier erklären wir den neuen Regulierungsansatz und die politischen Prozesse um ihn herum.

Wer ist von dem neuen Gesetz betroffen?

Erstens alle Menschen, die in der EU leben, und unsere Gesellschaft als Ganzes, da die meisten auf die eine oder andere Art mit KI-basierten Systemen in Berührung kommen werden. Zweitens sind Unternehmen und staatliche Behörden, die in der EU KI-Systeme anbieten bzw. einsetzen (im Wortlaut des Gesetzes „Anbieter und Nutzer“), verpflichtet, den gesetzlichen Auflagen des AI Act zu folgen. Diese Regelungen gelten immer dann, wenn KI-basierte Systeme in der EU angewendet werden – unabhängig davon, wo ihre Betreiber ihren Sitz haben. Außerdem gelten sie immer, wenn KI-Systeme Folgen innerhalb der EU haben – unabhängig davon, wo die Systeme selbst betrieben werden.

Leider gelten die im AI Act festgelegten Schutzmaßnahmen nur für Menschen, die in der EU leben. KI-Anbieter mit Sitz in der EU könnten Systeme entwickeln, die unter dem AI Act verboten sind, und sie außerhalb der EU zum Einsatz bringen.

Geht es nur um Maschinelles Lernen? Geltungs- und Anwendungsbereich

Durch die Definition, was ein KI-basiertes System ist, wird bestimmt, welche Systeme in den Geltungsbereich des Gesetzes fallen. In ihrem Entwurf zum AI Act definiert die EU-Kommission den Begriff eher sehr allgemein. Der EU-Rat und die darin vertretenen Mitgliedsstaaten haben auf eine engere Definition gedrängt, indem sie den Begriff auf Maschinelles Lernen begrenzen. Einige Systeme, die aus technischer Perspektive weniger komplex sind als Systeme, die auf Maschinellem Lernen beruhen, bleiben dadurch vom Geltungsbereich des AI Act ausgeschlossen. Der Einfluss solcher Systeme kann allerdings ebenso schädlich sein wie der komplexerer Systeme, wie etliche Fälle zeigen.

Außerdem legt der Entwurf zum AI Act fest, dass der Einsatz von KI-Systemen zu militärischen Zwecken außerhalb des Anwendungsbereichs des Gesetzes liegt. Der EU-Rat hat diese Einschränkung auf Belange der nationalen Sicherheit ausgeweitet. Dies würde (etwa auch autokratischen) Regierungen ermöglichen, biometrische Massenüberwachung einzuführen oder auch eine totalitäre Kontrolle durch die Vergabe von Punkten für erwünschtes Verhalten („Social Scoring“) auszuüben: Solche Maßnahmen sind zwar unter dem AI Act verboten, aber sie könnten im Namen der „nationalen Sicherheit“ durch die Hintertür dennoch möglich bleiben.

Was ist vom AI Act zu erwarten?

Der AI Act folgt einem risikobasierten Ansatz, um zu gewährleisten, dass der Einsatz KI-basierter Systemen keine negativen Auswirkungen auf die Sicherheit, Gesundheit und Grundrechte von Menschen hat. Die jeweiligen gesetzlichen Auflagen hängen von dem jeweiligen Risikopotenzial ab: Inakzeptabel risikoreiche Systeme sind verboten, Hochrisiko-Systeme unterliegen bestimmten Regeln und risikoarme KI-Systeme sind keinen Auflagen unterworfen.

Der Regulierungsrahmen des AI Act wird vorgeben, mit welchen Schutzvorkehrungen schädliche Auswirkungen von KI-basierten Systemen eingedämmt werden. Außerdem wird von ihm abhängen, ob und wie genau Personen auf Rechte und Rechtsbehelfsverfahren zurückgreifen können, falls ihre Grundrechte durch Voraussagen und Entscheidungen dieser Systeme verletzt wurden.

Mit Social Scoring wird die Vertrauenswürdigkeit einer Person beurteilt. Im Entwurf zum AI Act wird dieses Verfahren verboten, da es als unvereinbar mit den Werten der EU gilt. Das Verbot betrifft insbesondere Regierungen. Der EU-Rat und das EU-Parlament weiteten dieses Verbot von Social Scoring auf Privatunternehmen aus. Vorausschauende Polizeiarbeit soll nach den Angaben von Dragoş Tudorache und Brando Benifei, für den Act zuständige Berichterstatter im EU-Parlament, auch verboten werden, da sie „die menschliche Würde verletzt, gegen die Unschuldsvermutung verstößt und ein besonderes Diskriminierungsrisiko in sich birgt“. Der Entwurf schränkt den Einsatz von Gesichtserkennung durch Strafverfolgungsbehörden an öffentlichen Orten ein. Allerdings sind darin noch Schlupflöcher vorhanden, die Raum für den Einsatz von biometrischer Massenüberwachung bieten. Die Mitglieder des EU-Parlaments sprechen sich für ein striktes Verbot von KI-gestützter Überwachung an öffentlichen Orten aus, sowohl in Echtzeit als auch zeitversetzt. Die einzelnen Anwendungsverbote könnten aber umgangen werden, wenn eine Ausnahmeklausel für die „nationale Sicherheit“ eingeführt wird und KI-Systeme in irgendeiner Form unter Berufung darauf eingesetzt werden.

Hochrisiko-KI-Systeme, die in Bereichen wie der vorausschauenden Polizeiarbeit, Einstellungsverfahren oder der Grenzkontrolle zum Einsatz kommen, müssen einer Konformitätsprüfung durch den Anbieter unterzogen werden. Sie müssen über ihren Lebenszyklus hinweg bestimmte Voraussetzungen erfüllen.

Transparenz und Rechenschaftspflicht

Der AI Act sieht eine EU-Datenbank vor, in der Hochrisiko-KI-Systeme registriert werden. In dieser Datenbank sollten ursprünglich nur innerhalb der EU erhältliche und angebotene Systeme aufgeführt werden und es wäre nicht verpflichtend gewesen, Informationen über ihren Anwendungskontext bereitzustellen. Der EU-Rat und das EU-Parlament setzen sich für größere Transparenzanforderungen ein. Sie fordern, dass auch öffentliche Behörden die Anwendung von Hochrisiko-Systemen registrieren müssen. Die allgemeine Öffentlichkeit wie auch Watchdog- und Forschungsorganisationen würden auf diese Weise Zugang zu Informationen über den Anwendungskontext von Hochrisiko-Systemen erhalten, die öffentliche Behörden einsetzen.

Die im Raum stehenden Bußgelder, die im Fall eines Verstoßes gegen die Verordnungen des AI Act fällig wären, sind zwar beträchtlich. Ein Schadensersatz für Betroffene ist im Entwurf der Kommission jedoch nicht vorgesehen. Immerhin möchten die Mitglieder des EU-Parlaments geeignete Rechtsmittel für Betroffene einführen. Dazu gehören zum Beispiel das Recht, darüber informiert zu werden, wenn sie Hochrisiko-Systemen ausgesetzt sind, oder auch das Recht auf eine Erklärung, aus welchen Gründen diese Systeme eingesetzt werden.

Das Gesetzgebungsverfahren

Die EU-Kommission veröffentlichte ihren Vorschlag zum Artificial Intelligence Act im April 2021. Sobald der Vorschlag vorlag, begannen das EU-Parlament und der EU-Rat, das Gesetz zu ändern. Anders als sonst üblich führen zwei Ausschüsse die Verhandlungen im EU-Parlament: der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (Committee on the Internal Market and Consumer Protection, IMCO) mit dem Berichterstatter Brando Benifei und der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (Committee on Civil Liberties, Justice and Home Affairs; LIBE) mit dem Berichterstatter Dragoş Tudorache. Im April 2022 legten die zwei Berichterstatter den Entwurfsbericht zum AI Act vor ­– oder zumindest die Teile, auf die sie sich verständigen konnten.

Der EU-Rat hat sich im Dezember 2022 auf seine Version des AI Act (die allgemeine Ausrichtung) festgelegt. Die Mitglieder des EU-Parlaments verständigten sich im Juni 2023 auf eine gemeinsame Position zum AI Act. Mit ihren jeweils eigenen Positionen sind die drei Institutionen in die finale Verhandlungsphase eingetreten. Sobald sie einen Kompromiss gefunden haben, kann das Gesetz verabschiedet werden.

In Deutschland sind das Justizministerium und das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz für den Gesetzentwurf federführend zuständig. Ihre sowie die Positionen verschiedener anderer Ministerien flossen in die Verhandlungen innerhalb des EU-Rats ein.

Aktualisiert am 15. August 2023.

Lesen Sie mehr zu unserer Policy & Advocacy Arbeit zum Artificial Intelligence Act.