Automatisierte Kitaplatz-Vergabe: Wenn sich die Wege von Geschwistern trennen

Kitaplätze sind knapp. Um sie zu vergeben, hat die Stadt Münster einen Algorithmus eingesetzt, der für Aufruhr unter den Eltern sorgte.

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28. März 2023

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Im vergangenen Herbst entschied sich die Stadt Münster für ein automatisiertes Vergabesystem für Plätze in Kindertagesstätten. Den Eltern wurde angekündigt, dass damit die Transparenz bei der Vergabe größer werde. Später hatten sich so viele Probleme mit der Software angehäuft, dass sie wieder ausrangiert wurde. Im Zuge dessen verloren 144 Kinder die ihnen zugesicherten Plätze wieder.

Ann-Christine Spatzier steht als Elternvertreterin im ständigen Austausch mit dem Münsteraner Jugendamt. Sie ist die Anlaufstelle für all diejenigen, die ihrem Verdruss Luft machen wollen: „Das Schlimme daran ist, dass alle wissen, wie viele auf der Strecke bleiben. Das macht das Ganze so dramatisch. Jetzt, wo in Münster überall der Fachkräftemangel herrscht, sind noch weniger Plätze als vorher da.“

Plätze in Kindertagesstätten sind in ganz Deutschland schwer zu bekommen. Zwar ist die Vergabe theoretisch an eine Reihe von sozialen Kriterien geknüpft, denen zufolge etwa Alleinerziehende oder Kinder aus Haushalten mit geringen Einkommen bevorzugt werden sollten. In der Praxis geht dieser Plan allerdings eher selten auf.

Die Software für den Münsteraner „Kita-Navigator“ wurde im Februar 2022 aktualisiert. Bei dem Update wurde ein Algorithmus installiert, der jedem Kind ein Angebot zuordnete. Einigen Eltern und Kita-Leitungen fiel sofort auf, dass Geschwistern nicht mehr dieselbe Kita zugewiesen wurde, obwohl dies bis dato üblich gewesen war. Sie beschwerten sich beim Jugendamt darüber. Nachdem ein weiterer Programmierungsfehler entdeckt wurde (die von den Eltern angefragten Betreuungsstunden entsprachen nicht den angebotenen Betreuungsstunden), stoppte das Amt das System. Ann-Christine Spatzier hat den Eindruck, dass das Jugendamt nicht nur von dem massiven Widerstand überrascht war, sondern auch über den gravierenden Systemfehler.

Der Wirtschaftswissenschaftler Thilo Klein arbeitet für das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung und half dabei, den KitaMatch-Algorithmus zu entwickeln, über den die Kitaplatz-Vergabe in Steinfurt geregelt wird. Er warnt davor, dass der Fall Münster ein abschreckendes Beispiel für andere Stadtverwaltungen abgeben könnte, die etwas an der undurchschaubaren aktuellen Situation ändern wollen.

ITK Rheinland, der Anbieter des Systems, das in Münster versagte, hatte den vorgefertigten Gale-Shapley-Algorithmus verwendet, von dem Thilo Klein zufolge bekannt war, dass er Paare wie Geschwister nicht einer einzigen Einrichtung zuordnen kann: In den 1980er Jahren wurde derselbe Algorithmus verwendet, um Mediziner*innen in der Ausbildung an Krankenhäuser zu vermitteln. Der Algorithmus brachte es nicht zustande, sie in den Krankenhäusern unterzubringen, in denen bereits ihre Ehepartner*innen arbeiteten.

Die Probleme sind nicht neu

Das Verwaltungsgericht in Münster gab 2017 einer Familie Recht, die einen Kitaplatz eingeklagt hatte. Die Stadt Münster konnte nämlich nicht beweisen, dass alle Kinder mit einem Anspruch darauf auch einen Platz bekommen hatten­.

Die von Eltern betriebene, englischsprachige Kita Kotenbeis hatte in diesem Jahr sieben freie Plätze zu vergeben und erhielt dafür 135 Bewerbungen. Ute Doehnert leitet die kleine Kita im Stadtzentrum. Sie versprach sich von dem automatisierten Vergabeverfahren, dass es die Bedingungen verbessern würde: „Wir haben in den letzten Jahren häufig erlebt, dass Familien völlig verzweifelt waren, weil ihre Nachbarn fünf Angebote von Kitas bekommen hatten und sie gar keins.“ 

Vor der automatisierten Vergabe mussten Eltern, die keinen Platz erhalten hatten, darauf warten, dass Eltern mit zu vielen Zusagen die überschüssigen Kitaplätze wieder freigaben. Die Eltern ohne Zusage konnten sich wieder dafür bewerben, bis alle Plätze vergeben waren. Dieser Vorgang konnte monatelang dauern.  „Am Ende sind trotzdem welche übrig geblieben, die keinen Patz bekommen haben“, erklärt Ann-Christine Spatzier.

Das Gale-Shapley-Update

Viele andere Städte in Nordrhein-Westfalen verwenden den Kita-Navigator von ITK, um den Bewerbungsprozess für die Vergabe von Kitaplätzen zu verwalten. In den vergangenen Jahren wurde von ITK verlangt, dass sein Verteilungssystem transparenter und schneller werden und die vorgegebenen Kriterien besser berücksichtigen sollte. ITK reagierte darauf, indem es ein Software-Update mit dem Gale-Shapley-Algorithmus anbot. 

Die Stadt Marl hat das Gale-Shapley-Update in diesem Jahr genutzt. Aus dem dortigen Jugendamt heißt es, dass Tagesstätten jetzt Kinder bevorzugt aufnehmen, deren Geschwister bereits in ihnen untergebracht sind. Allerdings hatte ITK sie vor dem Update darauf hingewiesen, dass der Algorithmus Geschwister nicht automatisch einander zuordnen kann, wenn für sie gleichzeitig Bewerbungen in einer Kita eingehen. Damit die Geschwister nicht in unterschiedlichen Kitas untergebracht werden, würden deshalb für solche Fälle einige Plätze freigehalten werden.

Die Paderborner Jugendamtsleiterin sagt, dass sie mit dem Update und dem Algorithmus sehr zufrieden sei. „Bis jetzt hat es noch keinen Aufschrei auf Seiten der Eltern gegeben“, meint Thilo Klein. „Oder sie wissen einfach nicht, warum sie den Platz, den sie wollten, nicht bekommen haben.“

Die Stadt Münster hat derweil bestätigt, dass der aktuelle Gale-Shapley-Algorithmus „keine spezielle Programmierung bezüglich der Zuordnung von Geschwisterkindern“ aufweise. Allerdings bekämen beim aktuellen Verfahren Geschwisterkinder eventuell in unterschiedlichen Kitas Platzzusagen, womit möglicherweise die Chance größer werde, überhaupt eine Platzzusage zu erhalten, hieß es. Es werde aber daran gearbeitet, die automatische Zuordnung von Geschwistern in einer Tagesstätte zu ermöglichen.

Steinfurt setzt eine erweiterte Version des Gale-Shapley-Algorithmus namens KitaMatch ein, in der das Geschwister-Problem durch die Einführung mehrerer Durchläufe behoben wurde. Markus Dietz von ITK sagt dazu: „Nach unserem Kenntnisstand unterscheidet sich der von uns eingesetzte Algorithmus von dem der Software KitaMatch nicht, dies kann ich allerdings nicht mit hundertprozentiger Sicherheit beantworten.“ Auf die Frage hin, warum die Stadt Münster sich dazu entschieden habe, den Algorithmus von ITK zu verwenden, meinte Oliver Brand vom dortigen Amt für Kommunikation: „Ich nehme an, dass wir bei unserem Software-Anbieter bleiben mussten.“

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