Wie Big Tech europäische Politik, Presse und Forschung umgarnt und bedrängt

Unter dem Deckmantel, Forschung und Journalismus zu fördern, haben Google, Facebook und andere große Technologieunternehmen ein umfassendes Lobby-System aufgebaut – und damit ein komplexes Netz von Abhängigkeiten und Einflussnahme gesponnen. Transparenz ist längst überfällig.

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Nicolas Kayser-Bril
Reporter

In den frühen 1920er Jahren war Miller McClintock der führende Experte in Verkehrsplanung. Autos waren neu, verstopften aber bereits die amerikanischen Städte. McClintock arbeitete unermüdlich an Lösungen, den Verkehrsfluss zu optimieren. Trotz seiner Bekanntheit wechselte er jedoch mit 31 Jahren noch immer von einem Job zum nächsten und blieb finanziell ungesichert. Im Sommer 1925 bot ihm Studebaker, ein damals großer Autohersteller, an, ein Bureau for Street Traffic Research (Institut für Straßenverkehrsforschung) zu finanzieren. Ohne zu zögern akzeptierte McClintock, dessen Geschäftsführer zu werden.

Studebaker hat sich vermutlich nie in die Forschungen von McClintock eingemischt. McClintock hingegen, der bis zu diesem Zeitpunkt jedes Verkehrsmittel als gleichrangig eingestuft hatte (und für eine begrenzte Nutzung des Autos eingetreten war), übernahm unvermittelt die Sicht der Autohersteller und plädierte für mehr und breitere Straßen.

Die Investition Studebakers in ein unabhängiges Forschungsinstitut ist wahrscheinlich der erste Versuch eines Industriezweigs, systematisch Einfluss auf die Forschung zu nehmen, ohne direkte Kontrolle auszuüben. Andere Branchen folgten: Big Tobacco schuf den berühmten Council for Tobacco Research (Institut für Tabakforschung), ExxonMobil finanzierte Dutzende von Think Tanks.

‚Sie halten uns für dumm’

Die heutigen Big Tech Konzerne sind ehemalige Start-ups, die von den Besten gelernt und sich genau diese Methoden zunutze gemacht haben. Eine kürzlich im New Statesman erschienene Reportage zeigt auf, dass Facebook, Google und Microsoft Millionenbeträge in Forschungsinstitute investierten, die mit renommierten Universitäten verbunden waren, angeblich zur Unterstützung wissenschaftlicher Arbeit.

Das Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin beispielsweise erhielt von Google seit seiner Gründung 2012 bereits 13,8 Millionen Euro. Als das Institut Shoshana Zuboff, Professorin an der Harvard Business School und scharfe Google-Kritikerin, im November 2019 einlud, entdeckte sie erst in letzter Minute, dass der Mountain-View-Riese einer der Sponsoren war. Diese Subventionen der Big Tech-Konzerne sind „Teil von Whitewashing-Bemühungen, um uns zu verwirren“ sagt sie und „sie halten uns für dumm und erwarten von uns, sie für wahrhaftig nett zu halten“.

Facebook hingegen verließ sich nicht einfach auf unsere Dummheit, sondern versuchte, sein Engagement zu verheimlichen. Bei der Ankündigung, dem Institute for Ethics in Artificial Intelligence der Technischen Universität München 7,5 Millionen US-Dollar zu spenden, versicherte Facebook, den Betrag an keinerlei Anforderungen an die Forschung zu knüpfen. Recherchen der Süddeutschen Zeitung haben jedoch ergeben, dass sich der Konzern den Rückzug der Spende von Jahr zu Jahr vorbehält, falls Mitarbeiter·innen des Instituts nicht seinem Gusto entsprechen sollten.

Die direkte institutionelle Finanzierung ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs der Einflussstrategien von Big Tech. Facebook vergibt jährlich Fördermittel in Millionenhöhe für Forscher·innen, damit diese beispielsweise Ideen „zur Stärkung von Transparenz, Fairness und Privatsphäre“ oder zum besseren Verständnis von Gesundheit und Sicherheit der „Instagram community“ entwickeln. Entscheidend ist, dass sich die Forscher·innen mit Vorschlägen bewerben müssen. Facebook entscheidet daraufhin eigenhändig über die Gewährung von Fördergeldern, so dass Forscher·innen die roten Linien von Facebook erahnen müssen – und möglichst zu verhindern versuchen, sie zu überschreiten.

Nicht alle teilen die Meinung, dass dies zu Selbstzensur einlädt. Sergio Splendore, Soziologieprofessor an der Università degli Studi di Milano (La Statale) und 2020 Empfänger eines solchen Forschungsbeitrags, meinte gegenüber AlgorithmWatch, dass „Facebook ein Vertrauensverhältnis“ mit Forscher·innen aufbaut. Im Unterschied zu anderen Förderungsinstitutionen mit ihren „absurden Anforderungen“ sei es bei Facebook so, dass der Konzern ein Projekt zur Förderung auswähle und es dann den Forschenden überlasse, dieses umzusetzen. „Ich versichere mir selbst, dass ich [in meiner Forschungsarbeit] autonom, gelassen und ausgewogen vorgehen werde... Ich halte es wirklich für ausgeschlossen, dass ich unter Druck gesetzt werde“, fügte Splendore hinzu.

Big Tech-Spenden können fatale Folgen haben. 2017 finanzierte Google den Think Tank New America Foundation. Als Forscher·innen der Denkfabrik kritisierten, dass Google seine Monopolstellung missbrauche, reagierte die Firma mit Druck auf die Leiterin des Think Tanks, sie solle das abtrünnige Team entlassen. (Google versichert, nichts damit zu tun zu haben.) Weniger zu befürchten haben festangestellte Professor·innen europäischer Universitäten, aber die Freigebigkeit von Big Tech-Konzernen lässt vermuten, dass die Zusammenarbeit kaum je frei von Bedingungen ist.

Auch Forscher·innen, die nicht Teil des Gönner-Systems von Big Tech sein wollen, können seine Macht trotzdem zu spüren bekommen. 2019 behinderte Facebook Journalist·innen und Akademiker·innen, die sein Werbesystem durchleuchten wollten. Google deaktivierte 2020 das Werbekonto von AlgorithmWatch, nachdem wir einen experimentellen Test über seine – möglicherweise illegalen – geschlechtsspezifischen Verzerrungen durchgeführt hatten. 2021 stoppte Facebook auf aggressive Weise ein Monitoring-Projekt der New York University, und übte auch auf AlgorithmWatch in einer Weise Druck aus, dass wir uns gezwungen sahen, ein Projekt zur Überwachung des Newsfeed-Algorithmus von Instagram zu beenden.

Umgarnung von Journalist·innen

Auf der Zielscheibe der Big Tech-Konzerne befinden sich jedoch nicht nur Forscher·innen. Big Oil und Big Tobacco konnten Journalist·innen unter Druck setzen, indem sie drohten, Werbeschaltungen zu streichen. Eine Umfrage von 1992 zeigte, dass sich 90% der US-Verlage aufgrund ihrer journalistischen Erzeugnisse unter Druck von Werbeschalter·innen fühlten. Big Tech-Unternehmen können diese Art der Einflussnahme nur schon deshalb nicht mehr ausüben, weil sie in traditionellen Medien fast keine Werbung schalten.

Stattdessen unterstützen sie nun Medienhäuser in der Produktion digitaler Inhalte. Facebook beispielsweise bezahlte in den späten 2010er Jahren Abermillionen US-Dollar an amerikanische und europäische Redaktionen für die Produktion von Live-Videos. Die Verträge dafür wurden nicht öffentlich gemacht, aber alleine die New York Times erhielt gemäss Wall Street Journal mindestens 3 Millionen US-Dollar. In Frankreich wurden einige Redaktionen mit bis zu 200.000 Euro pro Monat finanziert.

Spitzenreiter bei dieser Art von Förderung bleibt jedoch Google. Der Tech-Riese hat seit 2013 mit seiner Digital News Initiative Nachrichtenagenturen mit rund 200 Millionen Euro unterstützt, wie eine Studie der deutschen Otto Brenner Stiftung festhält. Die meisten Spenden erfolgen dabei in Form von Zuschüssen, für die sich Redaktionen bewerben müssen. Die Liste der Begünstigten sowie die Verträge sind nicht öffentlich.

Diese Finanzierungsart ist so durchdringend und intransparent, dass es für Journalist·innen praktisch unmöglich ist zu wissen, ob ihre Arbeitgeber von Big Tech Geld erhalten.

Google organisiert unter dem Namen Newsgeist ein jährliches Exklusivtreffen mit Medienprofis, das ausgewählten Journalist·innen und Entscheidungsträger·innen eine Zusammenkunft mit seinen Top-PR-Leuten ermöglicht. Angebliches Ziel ist, gemeinsam eine „positive, professionelle und zweckmäßige Zukunft für News im digitalen Zeitalter zu schaffen“. Es beteiligt sich auch an der Finanzierung diverser Konferenzen und Organisationen wie dem International Journalism Festival in Perugia (Italien) oder an Programmen des European Journalism Centre.

 Um diese Maschinerie europaweit am Laufen zu halten, zögern die Big Tech-Konzerne nicht, ehemalige Journalist·innen zu umwerben. Eine Kurzrecherche auf LinkedIn zeigt, dass Dutzende von ihnen, die für etablierte Medienhäuser gearbeitet haben, nun als „Media Partnership Managers” für Google oder Facebook tätig sind. Ob solche Karrierechancen Journalist·innen in ihrer Arbeit beeinflussen oder nicht, bleibt eine offene Frage.

Während die meisten Zuschüsse von Begünstigten keine sofortige Gegenleistung bedingen, besteht doch kaum Zweifel, dass dies von ihnen erwartet wird. Im Juni 2018 forderte Google in einer E-Mail die Mitglieder einer Arbeitsgruppe der Digital News Initiative, der viele Medienvertreter·innen angehörten, auf, Politiker·innen zu kontaktieren und gegen Teile der Urheberrechtsrichtlinie Stimmung zu machen, die Google ablehnt.

Politiker·innen im Visier

Und schließlich zögert Big Tech nicht, Politiker·innen direkt ins Visier zu nehmen. Genauso wie Journalist·innen wechseln regelmäßig auch ehemalige Politiker·innen in lukrative Jobs in Big Tech-Unternehmen. Laurent Solly, ehemals Berater des französischen Ex-Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, ist nun Vizepräsident für Südeuropa bei Facebook. Nick Clegg, früherer stellvertretender Premierminister des Vereinigten Königreichs, arbeitet seit 2018 ebenfalls bei Facebook.

Die Macht von Big Tech liegt jedoch nicht lediglich in seiner Attraktivität für gescheiterte Politiker·innen begründet, sie zeigt sich mitunter auch sehr direkt. Im Oktober 2020 zeigte ein geleaktes Dokument, dass Google plante, den Widerstand gegen die Pläne von EU-Kommissar Thierry Breton für den Digital Services Act zu erhöhen („increase pushback“).

Wie dem öffentlich zugänglichen Transparenzregister der EU zu entnehmen ist, deklarierten Google, Facebook, Amazon, Apple, TikTok, Snap und Microsoft 2020 nahezu 25 Millionen Euro an Spenden für Lobbying. Weil in Brüssel ab 2021 drei wichtige Gesetze (Digital Services Act, Digital Markets Act, AI Act) verhandelt werden, ist von noch höheren Ausgaben auszugehen. „Wir haben noch nie erlebt, dass ein Unternehmen solch hohe Geldbeträge ausgibt“, wurde Margarida Silva, eine Forscherin des Corporate Europe Observatory, einer NGO in Brüssel, letztes Jahr in der New York Times zitiert.

Die Lobby-Bemühungen der Konzerne beschränken sich nicht auf Brüssel. In Paris gaben dieselben Unternehmen 2019 und 2020 knapp 5 Millionen Euro jährlich für Lobbying aus (nicht alle deklarierten ihre Spenden für denselben Zeitraum), wie dem französischen Lobbyregister, zu entnehmen ist.

In Deutschland versuchte die Junge Union – Jugendvereinigung der konservativen CDU und CSU – insgeheim, von TikTok Sponsorengelder für eine ihrer Veranstaltungen zu gewinnen, möglicherweise im Austausch zu Zugang zu deutschen Parlamentarier·innen (der Deal scheiterte, weil TikTok ihn schlussendlich widerrief).

Gut möglich, dass es weitere Beispiele gibt, wie Big Tech versucht, nationale Politiker·innen zu beeinflussen, und wie noch mehr Gelder in Warschau, Rom, Hamburg oder Berlin für Lobbying-Zwecke ausgegeben werden. So lange Lobbying-Register nicht flächendeckend und auf allen Ebenen des demokratischen Lebens verpflichtend sind, bleibt gesichertes Wissen dazu unmöglich.

Darum unterstützt AlgorithmWatch den Bündnisaufruf von LobbyControl. Wir fordern mehr Transparenz im politischen Lobbying und Obergrenzen für Parteispenden.

Langzeitwirkung

Die allumfassende Einflussnahme von Big Data-Unternehmen auf europäische Institutionen könnte auch langfristige Auswirkungen haben. Studebaker existiert als Unternehmen längst nicht mehr, die Konsequenzen der Publikationen des Bureau for Street Traffic Research hingegen sind noch immer spürbar. McClintocks voreingenommene Forschung beeinflusste zahlreiche Stadtplaner·innen, die Autobahnen gegenüber anderen Einrichtungen den Vorzug gaben – in dem falschen Glauben, dass mehr Straßen die Verkehrsüberlastung verringern würden.

Es ist nicht weit hergeholt zu behaupten, dass der heutige Klimanotstand zum großen Teil eine Folge des privaten Autogebrauchs und dem dadurch möglich gewordenen Lebensstil ist, teilweise verschuldet durch die einflussreiche Kampagne der Autoindustrie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.

Wir sollten diese Fehler nicht mit Big Tech wiederholen. Die Technologien, die sie einsetzen – besonders im Bereich der automatisierten Entscheidungsfindung (Automated Decision-Making, ADM) – bergen die Gefahr, alte Vorurteile zu zementieren und sozialen Fortschritt zu verhindern. Transparenz allein schützt nicht vor Unrecht, aber sie hilft Aktivist·innen zu verstehen, wie und worauf sie ihr Engagement ausrichten müssen.


Mehr zu McClintocks Leben und den Konsequenzen auf die Stadtplanung, siehe Fighting traffic: the dawn of the motor age in the American city von Peter Norton (Mit Press, 2011) und Dark age ahead, von Jane Jacobs (Vintage Canada, 2010).

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