Biometrische Fernidentifizierung als kolonialer Bumerang

Viele sind zu Recht empört darüber, wie sehr Live-Gesichtserkennung und andere Formen der biometrischen Fernidentifizierung unsere Freiheit im öffentlichen Raum einschränken. Durch diese Empörung übersehen sie meiner Meinung nach aber teilweise den Sinn dieser Technologie. Ein Blick auf die Kolonialgeschichte hilft uns zu verstehen, weshalb sie ein beliebtes Herrschaftsinstrument ist.

Excerpt from Fingerprints by Francis Galton
Nicolas Kayser-Bril
Head of Journalism

Auf Schritt und Tritt. 2019 führte ich zum ersten Mal eine Bestandsaufnahme zur Gesichtserkennung in der Polizeiarbeit in Europa durch. Damals war die Technologie noch eine Neuheit. Sechs Jahre später ist biometrische Fernidentifizierung allgegenwärtig. Serbien und Montenegro setzen in großen Städten Live-Gesichtserkennung ein. Das Vereinigte Königreich will die Technologie großflächig einführen. In der EU ist Live-Gesichtserkennung derzeit verboten, aber die KI-Verordnung sieht für ihren Einsatz großzügig Ausnahmen vor, zum Beispiel bei möglichen Terroranschlägen.

Manche mögen darauf vertrauen, dass die Polizei so eine Infrastruktur verantwortungsbewusst im Rahmen bestehender Gesetze nutzt. Andere erinnern sich vielleicht daran, dass viele Polizeibehörden in der Vergangenheit biometrische Erkennungstechniken erst eingesetzt und dann später um Erlaubnis gebeten haben, so geschehen in Schweden, Frankreich oder Slowenien. In der Berliner Gesetzgebung wird daran gearbeitet, eine biometrische Datenbank für die Polizei aufzubauen, was im Widerspruch zur KI-Verordnung steht. Biometrische Fernidentifizierung ist in der EU weit verbreitet. Ob die KI-Verordnung ihrem Einsatz einen Riegel vorschieben wird, bleibt eine offene Frage. Woher kommt diese Entwicklung?

Warum? Wenn Fernüberwachung zu einer größeren Sicherheit beitragen würde, hätten wir inzwischen zahlreiche Belege dafür. Das ist jedoch nicht der Fall. Zahlreiche Studien konnten keine Auswirkungen auf die Kriminalitätsrate oder eine größere Sicherheit nachweisen, außer auf Parkplätzen. Wenn die Polizei es auf ein sichereres öffentliches Leben abgesehen hätte, würde sie anders als jetzt wohl zumindest ein paar Ressourcen in Technologien investieren, die tatsächlich in diesem Sinne funktionieren, wie beispielsweise bürgernahe Polizeiarbeit.

Vielleicht haben Polizeibeamte einfach Freude an glänzenden neuen Gadgets. Aber meiner Erfahrung nach bevorzugen Männer und insbesondere Polizisten motorisierte Fahrzeuge. Warum Millionen in Software investieren, wenn es auch noch Lamborghinis gibt?

Biometrische Fernidentifizierung verschiebt das Gleichgewicht zwischen Demonstrierenden und Regierungen erheblich. Wenn die Polizei alle Mitglieder einer Gruppe identifizieren kann, sind sie nicht mehr durch die Masse geschützt. Vielleicht steht hinter dem Drang zur biometrischen Überwachung die Angst vor der Menschenmenge? Erfahrungen aus Indonesien, wo Live-Gesichtserkennung weit verbreitet ist, lassen nicht darauf schließen, dass die Technologie da besonders hilfreich wäre. Bei einer Revolte der „Gen Z“ letzten Monat versagte die Polizei völlig dabei, die Proteste in friedlichen Bahnen zu halten. Obwohl sie Tausende verhaftete, musste die Regierung letztendlich doch Zugeständnisse machen.

Mit solchen Erklärungen (biometrische Fernüberwachung diene der Verbrechensbekämpfung oder der Kontrolle von Menschenmengen, oder die neuen Gadgets würden einen eigenen Reiz ausüben) kommen wir nicht weit.

Britisch-Indien. Die bekannteste Geschichte der Biometrie beginnt in London und Paris, wo um 1900 Kriminalbeamte damit begannen, Fahndungsfotos („le Bertillonage“) oder Fingerabdrücke zu sammeln. Das ist richtig, lässt aber einen wichtigen Punkt außer Acht: Diese Arbeit beschränkte sich auf Kriminelle und Verdächtige. Der erste Versuch, eine gesamte Bevölkerung einer biometrischen Identifizierung zu unterziehen, fand im Indien der 1860er Jahre statt.

William Herschel war ein britischer Verwaltungsbeamter in Bengalen. Wie alle seine rassistischen Kollegen konnte er Inder*innen nicht auseinanderhalten. Sein Misstrauen hinderte ihn daran, sich auf traditionelle Gepflogenheiten zu verlassen, die zu dieser Zeit auch in Europa üblich waren, wie etwa die Bürgschaft anderer für die Identität einer Person. Die Lösung fand Herschel schließlich in den Fingerspitzen. Er zwang Inder*innen dazu, Verträge, Registrierungsurkunden oder Rentenanträge mit ihren Fingerabdrücken zu versehen. Sein System funktionierte so gut, dass er es als „Wunder” betrachtete. (Mehr über die faszinierende Geschichte der Abnahme von Fingerabdrücken in Indien sind in Chandak Sengooptas „Imprint of the Raj“ nachzulesen.)

Bumerang. Der Dichter und Politiker Aimé Césaire schrieb 1950, dass koloniale Techniken als „gewaltiger Bumerang“ nach Europa zurückkehren würden. Biometrische Identifizierung ist eine davon. Als die Londoner Polizei zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit anfing, Fingerabdrücke von Verdächtigen abzunehmen, baute sie auf den Erfahrungen aus Indien auf. Auch die aktuelle Welle biometrischer Überwachungsinitiativen beruht auf denselben Bedürfnissen, die vor 150 Jahren William Herschel hatte.

Koloniale Herrschaft ist Herrschaft ohne Vertrauen. Gewalt und das Zerstören bestehender Institutionen machen jegliches Vertrauensverhältnis zwischen Behörden und der Bevölkerung zunichte. Die Behörden gehen davon aus, dass die Bevölkerung ständig lügt, und deshalb gilt sie als dysfunktional. Sie haben eine Lösung dafür, die Kontrolle zu behalten: „alles, was sichtbar (und nicht sichtbar) ist, zu schematisieren, zu tabellieren, zu indexieren und aufzuzeichnen“, wie Edward Said es formulierte hat. Ferngesteuerte biometrische Überwachung dient nicht der Sicherheit oder dem Verhindern von Versammlungen (das kann sie gar nicht). Sie ist ein Kontrollmittel, wenn kein Vertrauen mehr in die Bevölkerung besteht.


Dies ist ein Auszug aus dem Newsletter „Die automatisierte Gesellschaft“, einer zweiwöchentlichen Zusammenfassung von Neuigkeiten zur automatisierten Systemen in Europa. Hier abonnieren.