Der TikTok-Algorithmus als Sündenbock für die Politik
Ein parlamentarischer Bericht über TikTok hat in den letzten Wochen in Frankreich mediale Wellen geschlagen. Er ist schon an sich interessant, aber außerdem ein Paradebeispiel für den Reflex vieler europäische Politiker*innen, wenn sie sich mit einem Thema beschäftigen, das mit Algorithmen zu tun hat.

1.000 Seiten. Letzten Monat veröffentlichten französische Abgeordnete einen Bericht darüber, welche Auswirkungen TikTok auf die psychische Gesundheit von Minderjährigen hat. Sie hatten dafür über 150 Expert*innen und Betroffene befragt, darunter auch TikTok-Führungskräfte. Bei einer zusätzlichen Online-Umfrage wurden außerdem 33.000 Antworten gesammelt. Die Interviews wurden vollständig in einem 1.000-seitigen PDF veröffentlicht, die Umfrageergebnisse sind in einer 33 MB großen CSV-Datei frei verfügbar. Über diese Fülle an Material werden sich bestimmt viele Studierenden freuen, die noch ein Thema für ihre Masterarbeit suchen.
Mit manchen Analysen liegen die Abgeordneten richtig. Sie kritisieren, dass europäische Gesetze wie die Datenschutz-Grundverordnung und der DSA nur sehr begrenzt angewendet werden. Deshalb fordern sie mehr Ressourcen für vertrauenswürdige Hinweisgeber, die in direktem Kontakt mit Plattformen stehen, um unangemessene Inhalte zu melden. Außerdem wünschen sie sich einen offen einsehbaren Standard für Empfehlungsalgorithmen, damit Dritte spezifische „For You”-Feeds entwerfen können. Nutzer*innen könnten sich dann zum Beispiel von ARTE kuratierte TikTok-Inhalte anzeigen lassen.
Korrelation ist einfach keine Kausalität. Der Großteil des Berichts ist aber eher haarsträubend. Für die Abgeordneten ist die Suche nach „dem“ zu entschlüsselnden TikTok-Algorithmus wie eine magische Suche nach dem Heiligen Gral, um Unheil zu vermeiden. Viel Platz wird Erklärungen eingeräumt, dass TikTok psychische Probleme verursache. Obwohl gewissenhafte Wissenschaftler*innen betonen, dass eine intensive TikTok-Nutzung mit Angstzuständen und Depressionen korreliert, behaupten die Autor*innen hemdsärmelig, dass TikTok psychische Störungen „provoziert” und „verstärkt”.
Im gesamten Bericht wird TikTok als „Gift“, „Falle“ oder „gesetzlos“ diffamiert. Es sei „eines der schlimmsten sozialen Netzwerke“, heißt es, das „überwiegend schädliche“ Inhalte verbreite. Diese Behauptungen werden nie ernsthaft untermauert.
Gefallene Mädchen. Stattdessen machen sie TikTok allein für Selbstverletzung, Magersucht und Gewalt verantwortlich. Wenn wir ihrer Darstellung folgen würden, dann müssten wir um Frankreichs Jugend bangen, da eine perfide chinesische Macht drauf und dran ist, sie zu verderben.
So eine Vereinfachung ist nichts Neues. Das Klischee vom bösen Anderen, der junge Mädchen ihrer Unschuld beraubt, ist so alt wie die Moderne. Vor TikTok waren es Romane, Drogen oder Videospiele. Damals wie heute wird mangelnde elterliche Kontrolle angeprangert, ein Werteverfall beklagt und gefordert, dass junge Menschen „gebildet und unterhalten” werden, aber natürlich nur so, wie es die Älteren von ihnen erwarten.
Vertiktokt. Die Oberflächlichkeit des Berichts ist zum Teil auf die Eigenart französischer Institutionen zurückzuführen. Durch die ständige politische Instabilität sind viele Abgeordnete unerfahren, und das Parlament ist so unbedeutend geworden, dass sie oft auf parlamentarische Untersuchungen zurückgreifen, um sich in den nationalen Medien zu profilieren.
Aber wenn ich mir die Beiträge der Autoren auf X, Instagram und LinkedIn anschaue, frage ich mich: Lassen sie sich – vielleicht unbewusst – von Denkfaulheit und verzerrten Klischees leiten, damit sie leichter schicke 30-Sekunden-Clips produzieren können, in denen sie gegen TikTok wettern? Sind sie selbst der kurzen Aufmerksamkeitsspanne und Emotionalisierung zum Opfer gefallen, die sie als Zeichen des Kulturverfalls deuten? Wir werden keine Antwort darauf bekommen, denn das französische Parlament hat keinen Bericht über die Auswirkungen von Facebook auf Boomer oder die Auswirkungen des X-Algorithmus auf Politiker*innen in Auftrag gegeben. Wahrscheinlich ist es zu spät, um das nachzuholen.
Dies ist ein Auszug aus dem Newsletter „Die automatisierte Gesellschaft“, einer zweiwöchentlichen Zusammenfassung von Neuigkeiten zur automatisierten Systemen in Europa. Hier abonnieren.
