EU-Migrationspakt: Die Europäische Gemeinschaft der Überwachung
An den EU-Grenzen und den dortigen Abschiebelagern werden immer mehr Technologien eingesetzt, die die Privatsphäre verletzen. Der neue Migrations- und Asylpakt ermutigen geradezu, die gesellschaftlich bereits am stärksten Ausgegrenzten mit gefährlichen digitalen Systemen noch intensiver zu überwachen - auch Kinder.
Am 10. April 2024 hat das Europäische Parlament den neuen Migrations- und Asylpakt verabschiedet. Er erweitert die digitale Infrastruktur einer EU-Grenzpolitik, die Migrant*innen voreilig kriminalisiert und bestraft und sie rassistischen Bewertungen aussetzt.
(Die folgende Erklärung wurde nach der Schlussabstimmung des Europäischen Parlaments über den neuen EU-Migrations- und Asylpakt gemeinsam von der #ProtectNotSurveil-Koalition verfasst.)
Trotz wiederholter Warnungen von zivilgesellschaftlichen Organisationen erleichtert es der Pakt, Einwanderer*innen willkürlich zu inhaftieren, rassistische Profile zu erstellen und durch neue „Krisenverfahren“ Personen in angeblich „sichere Drittstaaten“ zurückzuschicken, wo sie Gewalt, Folter und ungerechtfertigte Haftstrafen erwarten.
Europäische High-Tech-Lager
An den EU-Grenzen und den dortigen Abschiebelagern werden immer mehr Technologien eingesetzt, die die Privatsphäre verletzen. EU-Polizeibehörden sammeln mit biometrischen Identifizierungssystemen massenhaft personenbezogene Daten und tauschen sie untereinander aus, um Migrant*innen ohne Papiere zu überwachen und zu verfolgen. Der neue Migrationspakt sieht die Einführung von etlichen technischen Systemen vor, die Daten von nach Europa Einreisenden erstellen, sie filtern und bewerten. Die neuen Screening- und Grenzverfahren werden dazu führen, dass mehr Menschen wie in Griechenland in gefängnisähnlichen Lagern eingesperrt werden, auch Kinder und Familien. In solchen „geschlossenen Zentren mit kontrolliertem Zugang“ bilden Bewegungsmelder, Kameras und Fingerabdruck-Scanner ein digitales High-Tech-Überwachungssystem.
Änderungen an der EURODAC-Verordnung (Eurodac ist eine biometrische Datenbank der Europäischen Union) schreiben ein systematisches Erfassen biometrischer Daten von Migrant*innen vor, was nun auch Bilder ihrer Gesichter beinhaltet. Das Mindestalter für das Erfassen solcher Daten wurde von vierzehn auf sechs Jahre gesenkt.
Die Verordnung ermöglicht es, Zwangsmaßnahmen anzuwenden, falls „kinderfreundliche“ Methoden versagen.
Darüber hinaus räumen die neuen Verfahren die Möglichkeit einer automatisierten und KI-gestützten Entscheidungsfindung ein, um vorgeschriebene Sicherheitskontrollen bei irregulär nach Europa eingereisten Asylsuchenden durchzuführen. Deren biometrische Daten müssen mit den zahlreichen nationalen und europäischen Polizei- und Einwanderungsdatenbanken sowie den von Europol und Interpol betriebenen Systemen abgeglichen werden.
Rechtlich geregelte Ausgrenzung
Der Migrationspakt stützt sich auf den bestehenden EU-Rechtsrahmen, der die digitale Überwachung von Migration regelt. Die KI-Verordnung der EU sieht nur geringe Auflagen vor, wenn nationale Sicherheitsbehörden KI in der Strafverfolgung und Migrationskontrolle einsetzen. Die darin enthaltenen Schlupflöcher ermutigen sogar dazu, die gesellschaftlich bereits am stärksten Ausgegrenzten mit gefährlichen digitalen Systemen zu überwachen.
Die in den Gesetzestexten verwendeten Begriffe wie „nationale Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ lassen den Mitgliedstaaten einen übermäßig großen Ermessensspielraum, weil sie vage und undefiniert sind. Sie könnten auch zu potenziell diskriminierenden Praktiken führen, wenn bestimmte Nationalitäten zu einem rassistischen Ausschlusskriterium werden.
Diese Systeme werden den grausamen Status quo noch schlimmer machen. Die europäischen Entscheidungsträger*innen behandeln die Zuwanderung von Menschen seit Jahren hauptsächlich als Sicherheitsfrage. Daraus folgt, dass es nur sehr wenige Wege gibt, sicher und geregelt nach Europa zu kommen. Migrant*innen werden kriminalisiert und systematisch diskriminiert. Trotzdem investiert die EU in Technologien, die das in diesem System herrschende Unrecht verstärken. Von dieser Agenda profitieren Sicherheitsfirmen, deren Technologien Menschen auf noch gefährlichere Routen abdrängen.
Wie weiter?
Der Migrationspakt weitet in seiner endgültigen Fassung die digitale Überwachung in der Festung Europa aus. Er höhlt die Grundrechte weiter aus und setzt eine Migrationspolitik fort, die auf Repression statt auf Rechten basiert.
Unsere #ProtectNotSurveil-Koalition wird weiterhin den Einsatz digitaler Technologien in der EU-Politik und -Praxis hinterfragen. Wir setzen uns dafür ein, dass Menschen sich frei und sicher bewegen können, um sich einen Lebensort zu suchen, an dem sie nicht überwacht und diskriminiert werden.
Wenn Sie mehr über die Arbeit der Koalition erfahren oder uns beim Kampf gegen die digitale Migrationskontrolle der EU unterstützen möchten, schreiben Sie bitte an: info@protectnotsurveil.eu
Die #ProtectNotSurveil-Koalition:
Access Now, Equinox Initiative for Racial Justice, European Digital Rights (EDRi), Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants (PICUM), Refugee Law Lab, AlgorithmWatch, Amnesty International, Border Violence Monitoring Network (BVMN), EuroMed Rights, European Center for Not-for-Profit Law (ECNL), European Network Against Racism (ENAR), Homo Digitalis, Privacy International, Statewatch, Dr. Derya Ozkul, Dr. Jan Tobias Muehlberg, Dr. Niovi Vavoula