Unsere Untersuchung der Hartz-IV-Algorithmen zeigt: Hier diskriminiert der Mensch und nicht die Maschine

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) und die Jobcenter setzen Algorithmen ein, um zu berechnen, wie viel Arbeitslosengeld II – besser bekannt als Hartz IV – ein·e Antragsteller·in bekommt. Anders als in den USA oder in Österreich geschehen, konnten wir in den deutschen Sozialhilfe-Algorithmen keine diskriminierenden Muster nachweisen. Das Problem sind eher Sachbearbeiter·innen und das Gesetz.

Tim Reckmann| flickr

Dieser Artikel fasst die Ergebnisse der Masterarbeit von Louisa Well im Fach Science and Technology in Society an der University of Edinburgh zusammen. Sie hat während der Recherche als Gastwissenschaftlerin bei AlgorithmWatch gearbeitet und Interviews mit Vertreter·innen der Bundesagentur für Arbeit und einem Jobcenter sowie mit ALG-II-Empfänger·innen geführt.

Für die Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 brauchte die BA eine neue Verwaltungssoftware. Unter großem Zeitdruck entschied sich die Behörde dafür, die Entwicklung an T-Systems, eine Tochtergesellschaft der Telekom, auszulagern. Nach nur 12 Monaten Entwicklungszeit ging das neue System A2LL (Arbeitslosengeld II – Leistungen zum Lebensunterhalt) an den Start.

Die folgenden Jahre waren von Systemfehlern und Fehlberechnungen geprägt. Die unflexible Software konnte nicht an notwendige Gesetzesänderungen angepasst werden. Angesichts dieser Probleme beschloss die BA eine eigene Software zur Verwaltung von den vier bis fünf Millionen „erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“ zu entwickeln. 2014 wurde das IT-System ALLEGRO eingeführt (Arbeitslosengeld II Leistungsverfahren Grundsicherung Online). Dadurch konnte die Bearbeitung der einzelnen Fälle beschleunigt und die Fehlerquote gesenkt werden.

Berechnung des Arbeitslosengeld II

Die Berechnung des Arbeitslosengeld II (ALG II) könnte ganz einfach sein, denn es gibt einen gesetzlich festgelegten Regelsatz von 432 Euro (Stand: Januar 2020). Die Ermittlung des individuellen Satzes wird aber durch drei Faktoren verkompliziert: die Bedarfsprüfung, das Prinzip der Nachrangigkeit und die Bedarfsgemeinschaft.

Bei der Bedarfsprüfung werden Besitz und Vermögen der Antragsteller·innen geprüft. Besitzen sie Erspartes oder ein Haus, müssen diese erst aufgebraucht und eventuell verkauft werden, bevor ein Anspruch besteht.

Das Nachrangigkeitsprinzip bedeutet, dass Hartz IV jeder anderen staatlichen Leistung wie Kindergeld oder Elterngeld nachgeordnet ist. Wenn eine Empfängerin also 204 Euro Unterstützung für ihr Kind bekommt, werden nur 228 Euro Hartz IV gezahlt, sodass die Empfängerin insgesamt den Regelsatz von 432 Euro erhält.

Wenn ein Empfänger in einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft lebt, wird dies auch auf den Satz angerechnet. D.h. dass Kinder oder Eltern im erwerbsfähigen Alter, Ehe- oder Beziehungspartner·in mit für den Unterhalt des Empfängers verantwortlich sind und der Hartz-IV-Satz dementsprechend gesenkt wird.

Das ALLEGRO-System

Die Software kommt bei den Jobcentern zum Einsatz. Ein Antragsteller geht zu seinem lokalen Jobcenter und ist dort im Gespräch mit einer Mitarbeiterin. Es liegt bei ihr, die Lebensumstände des Antragstellers zu erfassen und in ALLEGRO einzutragen. Das IT-System kalkuliert dann den entsprechenden Satz. Nachdem dieser noch einmal von der Mitarbeiterin überprüft und bestätigt wurde, sorgt die Software dafür, dass automatisiert ein Bescheid für den Empfänger erstellt wird und das Geld ausgezahlt wird.

ALLEGRO ist das Kernsystem, das mit anderen sogenannten Schnittstellen verknüpft ist. ALLEGRO führt nicht jede Funktion selbst aus, sondern stellt den Kontakt zu anderen Systemen her, die dann in Aktion treten. Die Überweisung an den Empfänger erfolgt beispielsweise über eine Zahlung-Schnittstelle, der Brief mit dem Bescheid wird von der Schnittstelle INVARIS erstellt und versandt. Informationen wie Name, Adresse und Geburtsdatum befinden sich in der zentralen Personendatenverwaltung STEP, während der Bescheid und alle Dokumente, die im Laufe der Zeit von dem ALG-II-Empfänger eingereicht werden, auf einem anderen Server in der E-Akte gespeichert werden.

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Der Mensch entscheidet

Welchen ALG-II-Satz jemand bekommt, wird also nicht von der Maschine, sondern weiterhin in großen Teilen von einem Menschen entschieden. Die individuellen Lebensumstände von Antragstellenden sind zu vielfältig, als dass sie vollautomatisiert erfasst werden könnten.

Im Jobcenter finden stetig Ermessensentscheidungen statt: Ist das Haus zu groß und muss erst verkauft werden? Kann der 17-jährige Sohn zum Einkommen beitragen? Wohnen zwei Menschen nur zusammen oder befinden sie sich in einer Partnerschaft? Erst wenn die komplexe Lebenslage der Antragsstellenden von einer Mitarbeiter·in in ein vorgefertigtes Raster übertragen wurde, tritt die Software ALLEGRO in Aktion und berechnet entsprechend der gesetzlichen Vorgaben, welcher Betrag ausgezahlt wird.

Der Spielraum für Diskriminierung im technischen System ist bei ALLEGRO nicht angelegt; weder werden Entscheidungen aufgrund von historischen Daten getroffen (wie zum Beispiel bei der österreichischen AMS-Software), noch wurden der Großteil der Sachbearbeiter·innen durch ein Automatisierungssystem ersetzt, wie im von Virginia Eubanks beschriebenen Beispiel aus den USA.

Das Hartz-IV-Problem liegt woanders

Im Rahmen der Recherche sind verschiedene Ungerechtigkeiten zutage getreten, die mit der Verwaltungssoftware nichts zu tun haben. Eine alleinerziehende Mutter aus Griechenland erzählte von ihren Erfahrungen im Jobcenter: „Geh zurück in dein Land! Und das habe ich auch von anderen Leuten gehört. Ich denke, das ist was sie tun, um dich klein zu machen und damit du dich fühlst, als würdest du um Unterstützung betteln.“

Ein Mitarbeiter berichtete der Süddeutschen Zeitung. „Das ist oft subtil. Ich habe zum Beispiel eine Kollegin, die schaut ihren Kunden nie ins Gesicht, wenn sie mit ihnen spricht. Sie spricht mit dem Computer." Die Jobcenter sehen sich nicht in der Pflicht, den Antragsstellenden alle für sie wichtigen Informationen zukommen zu lassen. Wer sich im komplizierten Hartz-IV-System nicht auskennt, kann sich auf einen langen Antragsprozess einstellen, bei dem Anforderungen nicht klar kommuniziert werden.

Automatisierte Suche nach Betrug

Abgesehen von der Berechnung eines angemessenen ALG-II-Satzes, kann ALLEGRO auch für die Kommunikation mit anderen Einrichtungen genutzt werden. Im beschriebenen ALLEGRO-Kreislauf werden nur interne Schnittstellen genutzt, aber ALLEGRO kommuniziert auch mit externen Schnittstellen, also mit Institutionen außerhalb der BA.

Dazu gehören das Statistische Bundesamt, die Rentenversicherungen und Krankenkassen, aber auch der Zoll und die Polizei. Die Zusammenarbeit folgt unterschiedlichen Zielen: es werden Zahlen für die Arbeitslosigkeitsstatistik übermittelt, Neuanmeldungen an die Kassen gemeldet, nach Betrug und Schwarzarbeit gefahndet und Identitäten überprüft. Der Zoll kann beispielsweise bei einem Servicecenter der BA anrufen und Fragen stellen: „Wir haben Herrn Huber gerade auf der Baustelle getroffen, bezieht der bei euch Hartz IV?“ Falls ja, wird Herr Huber in den nächsten Wochen oft von seinem lokalen Jobcenter angerufen und zu kurzfristigen Terminen eingeladen werden.

Mit der Rentenversicherung findet einmal im Quartal ein Datenabgleich über das Verfahren DALG II statt. In diesem Prozess werden auch Rentner·innen überprüft, die kein Hartz IV beziehen, denn sie könnten ja Teil einer Bedarfsgemeinschaft sein und somit den Anspruch einer anderen Person beeinflussen. Wie auch der Zoll hat DALG II keinen direkten Zugriff auf ALLEGRO, sondern ist über das zwischengeschaltete Verfahren DALEI mit ALLEGRO verbunden.

Die Schnittstelle STEP zur Personendatenverwaltung ist mit dem Ausländerzentralregister verbunden, so kann eine Jobcenter-Mitarbeiterin personenbezogenen Stammdaten und aufenthaltsrechtlichen Informationen über eine Person ohne deutsche Staatsbürgerschaft abrufen. In Bayern wird darüber hinaus von ausgewählten Mitarbeiter·innen auf DOKIS zugegriffen, einem System der Bayerischen Polizei mit Beschreibungen und Abbildungen von Dokumenten aus anderen Ländern und Hinweise darüber, wie Fälschungen zu erkennen sind.

Auf die Art der Automatisierung kommt es an

Die Bedarfsberechnung von ALG II ist relativ schwach automatisiert und bietet daher nicht viel Raum für strukturelle Diskriminierung durch ein Automatisierungssystem. Ermessensentscheidungen werden von Menschen getroffen, und es gibt weiterhin Ansprechpartner·innen in den Jobcentern, mit denen Betroffene einen eingegangenen Bescheid besprechen können.

ALLEGRO wurde eingeführt, um ein fehlerhaftes System zu ersetzen. Ein wichtiger Schritt, denn in einigen Fällen werden teure Systeme extern von großen Firmen eingekauft, die dann nur bedingt auf den neuen Kontext angepasst werden. Betroffene sind dann unter Umständen einer schlecht funktionierenden Sozialverwaltung ausgeliefert. So in Hamburg, wo eine Enquete-Kommission zu dem Schluss kam, dass die Fachanwendung JUS-IT so schlecht funktioniere, dass durch sie die Sozialarbeiter·innen weniger Zeit für Familienbesuche hätten. Auch wenn das System ALLEGRO komplex ist, so ist der Grad der Automatisierung doch begrenzt: nur vorher festgelegte Regeln werden durch den Algorithmus ausgeführt.

Es lohnt sich automatisierte Systeme genau anzuschauen, um mögliche Fallstricke zu erkennen. Im Beispiel Hartz IV ist der ALLEGRO-Algorithmus relativ transparent. Die bestehende Diskriminierung geht von den Menschen aus und speist sich aus der Gesetzesgrundlage.

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