Hauptsache gesund? Wie der Berliner Senat die Daten von Impfwilligen verscherbelte

Das Land Berlin beauftragte auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie den Software-Anbieter Doctolib damit, Impftermine digital zu verwalten. Neue Dokumente zeigen: Für Berliner*innen war das ein denkbar schlechter Deal.

9. September: Der Beitrag wurde um Aussagen von Doctolib ergänzt. Details am Ende des Artikels.

Anfang 2021 beauftragte der Berliner Gesundheitssenat die Firma Doctolib, eine Online-Plattform bereit zu stellen, auf der Berliner*innen ihre Corona-Impftermine buchen können.

Im März 2021 veröffentlichte Linda Rath Screenshots, die zeigten, dass die Software ihr einen früheren Termin anbot, nachdem sie ihren Versicherungsstatus von „gesetzlich“ auf „privat“ umgestellt hatte. Diesem Hinweis ging AlgorithmWatch nach, um herauszufinden, ob Privatversicherte bei der Terminvergabe bevorzugt werden. Doch schnell wurde klar, dass die Vergabe nichts mit dem Versichertenstatus zu tun hatte. Es war reiner Zufall, sogar unabhängig von den verfügbaren Terminen. Teilweise wurden den Impfwilligen Termine erst Wochen oder Monate später angeboten, obwohl wesentlich früher ein Termin frei gewesen wäre. Diese Panne war nicht nur potenziell gesundheitsgefährdend, da die Menschen unnötig lange auf ihre Schutzimpfungen warten mussten. Sie wirft auch weitere Fragen auf: Hatte der Berliner Senat Fehler gemacht, als er den Auftrag an Doctolib vergab? Oder entsprach die Doctolib-Software nicht den Anforderungen?

Der Vertrag

Der Senat weigerte sich, den Vertrag und weitere Informationen zum Vergabeverfahren herauszugeben. Erst auf eine Klage der Nonprofit-Organisation FragDenStaat hin gab der Senat die Dokumente frei. Basierend auf diesen Unterlagen legen unsere Recherchen nahe, dass die Doctolib-Impfterminplattform möglicherweise regelmäßig zusammengebrochen wäre, wenn Doctolib sich strikt an die Vorgaben des Berliner Gesundheitsamts gehalten hätte.

Um einen geeigneten Software-Anbieter zu finden, beauftragte das Berliner Gesundheitsamt das Beratungsunternehmen IMTB. Aus E-Mails von IMTB geht hervor, dass die „Lastspitzen“ – die maximale Anzahl an Besucher*innen, die eine Website gleichzeitig besuchen – offenbar erheblich unterschätzt worden waren. Es fehlten zudem definierte Zeitfenster und Angaben über die „Anfragen pro Termin“. Die Systemvorgabe seitens IMTB sagte zum Beispiel: „Online-Terminbuchungen zu Lastspitzen: ca. 6.500 Buchungen“, was zu viel für eine Minute ist, aber zu wenig für eine Stunde, vor allem in einer Stadt mit fast 3,7 Millionen Einwohner*innen.

Doctolib gab AlgorithmWatch gegenüber an, dass das System in Absprache mit dem Berliner Gesundheitssenat eingerichtet wurde. „Die Vergabe der Impftermine erfolgte dabei innerhalb einer Gruppe von impfberechtigten Personen nach dem First-come-first-serve-Prinzip,“ so Doctolib-Sprecher Dominik Kratzenberg, und weiter „Durch die fortlaufende Lieferung zusätzlicher Impfstoffdosen, konnten die Impfzentren während der Kampagnen mitunter auch kurzfristig neue, zusätzliche Impftermine über Doctolib anbieten. Hierbei war es allen Nutzerinnen und Nutzern möglich, diese kurzfristigen Termine zu buchen.“ Wie schon bei unserer Berichterstattung im vergangenen Jahr, machte Doctolib zur Ursache der dokumentierten Pannen bei der Terminvergabe keine Angaben.

Unabhängig voneinander berichteten uns drei IT-Expert*innen, dass öffentliche Verwaltungen nahezu immer Verträge abschlössen, deren Vorgaben die tatsächlichen Anforderungen nicht angemessen widerspiegeln – wie möglicherweise auch die genannten Lastspitzen. IT-Unternehmen wüssten dies und würden von daher Software schreiben, die der tatsächlichen Belastung standhält, da ihr Ruf davon abhinge. Ein IT-Berater sagte uns: „Für eine öffentliche Verwaltung ist das nichts Außergewöhnliches.“ Ein anderer beschreibt die Dynamik wie folgt: „Wir geben einem Kleinkind ja auch nicht um neun Uhr abends eine Cola, nur weil es die will.“ Ob diese Einschätzungen auch im Fall der Berliner Impfplattform zutreffen, sei dahingestellt. Jedenfalls werfen die Aussagen kein gutes Licht auf die digitale Kompetenz der Behörden.   

Diese Kompetenz fehlte dem Gesundheitssenat offenbar auch bei anderen Teilen des Deals mit Doctolib. Die uns vorliegenden Dokumente zeigen, dass Berlin Doctolib einen großen Teil der Bevölkerung als Nutzer*innen bescherte – ob wissentlich oder nicht, ist unklar. Denn seitdem Berlin mit Doctolib 2020 den Vertrag über die Impftermin-Plattform abgeschlossen hat, wurden dem Berliner Gesundheitssenat zufolge über die Plattform 1,6 Millionen Impftermine gebucht. Da das nur möglich ist, wenn man sich zuvor registriert, bedeutet das, dass Hunderttausende Berliner*innen bei Doctolib Konten anlegen mussten.

Eine Berliner Partnerschaft

Die E-Mails zwischen dem Berliner Gesundheitssenat und dem Beratungsunternehmen IMTB lassen darauf schließen, dass Doctolib sich gegenüber Wettbewerbern wie Doctena oder Dr. Flex durchsetzen konnte, weil Doctolibs Angebot das günstigste war, nämlich 0 Euro. Als ein IMTB-Berater dem Gesundheitssenat eine Übersicht der verschiedenen Buchungsunternehmen per E-Mail schickte, machte er darauf aufmerksam, dass Doctolib einen klaren Preisvorteil biete.

Jedoch beinhalteten weder die Vergabeformulare noch der Vertrag eine Klausel, die Doctolib untersagte, die Konten der Nutzer*innen auch für etwas anderes als die Vergabe von Impfterminen zu nutzen. Mit der Registrierung auf der Plattform schlossen die Nutzer*innen aber einen separaten Vertrag mit Doctolib ab, in dem sie der weiteren Nutzung ihrer Daten zustimmten.

Doctolib-Sprecher Dominik Kratzenberg schreibt: „Doctolib ist für die Anlage eines Nutzerkontos durch Patient*innen Verantwortlicher der Datenverarbeitung. Das bedeutet, dass nur Nutzer*innen selbst die Entscheidung über die Löschung der Nutzerkonten treffen können. Eine ungefragte Löschung vonseiten Doctolibs wäre nicht nur vertraglich nicht erlaubt, sondern auch ein Eingriff in die freie Entscheidung der Patient*innen.“ Auf die Frage, warum es überhaupt notwendig war, dass die Impfpatient*innen Konten anlegen, antwortete er, dass die Buchung für sie dadurch einfacher und sicherer gewesen sei.

Seitdem bekannt wurde, dass Doctolib die durch die Impfterminvergabe gewonnenen Nutzer*innenkonten nicht aus eigener Initiative löscht, wurde das Unternehmen wiederholt dafür kritisiert. Volker Brozio, der kommissarische Leiter der Berliner Datenschutzbehörde, sagte dem Tagesspiegel: „Doctolib hat den Umstand, dass es als Dienstleister beauftragt wurde, dafür genutzt, eine rechtliche Kundenbindung herzustellen. Das wiederum hätte die Senatsverwaltung verhindern müssen. Wir haben sie mehrmals darauf hingewiesen.”

Doctolib-Sprecher Kratzenberg sieht das anders: „Was den Schutz der Privatsphäre betrifft, arbeitet Doctolib DSGVO konform und hält sich vollständig an den Vertrag, den wir mit dem Berliner SenGPG [Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, d.Redaktion] als technologischer Partner geschlossen haben, um beim Terminmanagement während der Impfkampagne zu unterstützen.“

Felix Katt vom Berliner Gesundheitssenat sagt dazu, dass die öffentlichen Vergabeverfahren Berlins zum Ziel hätten, „die wirtschaftlichste Lösung zu bekommen“. Daneben gebe es haushaltsrechtliche und vergaberechtliche Regelungen zu berücksichtigen.

Wettbewerbsvorteile

Andere Terminbuchungsunternehmen, die beim Berliner Senat Angebote für die Plattform abgegeben hatten, kalkulierten mit mehr als 0 Euro. Alain Fontaine, der CEO von Doctena, fragt: „Warum sollten unsere Mitarbeiter kostenlos arbeiten?“ Doctena sei ein kommerzielles Unternehmen und keine Wohltätigkeitsorganisation. Tom von Saldern, der CEO von Dr. Flex, gab an, dass das Angebot seines Unternehmens bei einer sechsstelligen Summe gelegen habe. Patient*innen müssen auf der Plattform keine Konten anlegen, um einen Termin zu erhalten. Samedi, arzttermin.de und Salesforce haben auf unsere Anfrage nicht reagiert.

Ab 2025 wird es einen einheitlichen europäischen Datenraum für Gesundheitsdaten geben – und damit auch einen riesigen, noch weitgehend unbestellten Markt mit 450 Millionen Nutzer*innen – dank neuer, EU-weit geltender Standards zum Umgang mit Gesundheitsdaten aus ganz Europa. Wer wird den größten Teil dieses Kuchens bekommen?

Mit 815 Millionen Euro an privaten Finanzmitteln im Rücken und Zugang zu den Märkten in Deutschland, Italien und Frankreich hat Doctolib potenziell die besten Voraussetzungen, um ein Gatekeeper zwischen europäischen Patient*innen und EU-Mediziner*innen, Kliniken und anderen Gesundheitsdienstleistern zu werden. Sein Verhalten in Berlin legt nahe, dass Doctolib dabei die Strategie verfolgt, auf Einnahmen zu verzichten, um die Zahl der Nutzer*innen auf der Plattform in die Höhe zu treiben. Damit wandelt es auf den Spuren von Tech-Giganten, denen es mit derselben Strategie gelungen ist, sich quasi-monopolartige Positionen zu sichern. Der Berliner Senat hat offenbar nichts dagegen einzuwenden.

Aktualisierung, 9. September 2022, 18.30 Uhr

Wir haben die Formulierung „Anfang 2021 beauftragte der Berliner Gesundheitssenat die Firma Doctolib, eine Online-Plattform zu bauen“ geändert auf „bereit zu stellen“, da die Plattform bereits existierte und lediglich auf die Bedürfnisse Berlins bzw. des Berliner Senats angepasst wurde.

Wir haben den Artikel um Aussagen Doctolibs zur Vergabe der Impftermine nach dem First-come-first-serve-Prinzip und den Schutz der Privatsphäre ergänzt.


Wenn Sie etwas daran ändern möchten, dass sich die öffentliche Verwaltung von Privatunternehmen über den Tisch ziehen lässt, auf unser aller Kosten, dann schreiben Sie jetzt an Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und fordern sie auf, Transparenzregister und Folgenabschätzungen für digitale Systeme zu schaffen. Nur so werden wir verhindern können, dass sich derartige Fälle wiederholen.

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