Spanien: Rechtsstreit um den Code eines Algorithmus

In Spanien ist einer halben Million Menschen ein Stromkosten-Zuschuss verweigert worden, auf den sie unter Umständen einen Anspruch gehabt hätten. Eine Software hat über die Anträge entschieden. Die Non-Profit-Organisation Civio zieht jetzt vor Gericht, um den Quellcode zu erhalten.

Nicolas Kayser-Bril
Head of Journalism (in Elternzeit)

Im Jahr 2009, mitten in der Wirtschaftskrise, wurde in Spanien ein Gesetz verabschiedet, durch das mehr als fünf Millionen einkommensschwacher Haushalte fortan einen Zuschuss zur Stromrechnung bekamen. Um den Zuschuss, in Spanien als bono social bezeichnet, ist seither immer wieder gestritten worden, auch vor Gericht. Und nicht ohne Folgen: Nach einem Urteil von 2016 musste die Regierung neue, strengere Regelungen für die Inanspruchnahme einführen. Zudem mussten sämtliche Berechtigte bis zum 31. Dezember 2018 ihre Anträge erneut einreichen.

Eine halbe Million Ablehnungen

Zum Stichtag waren knapp 1,5 Millionen Anträge bewilligt – fast eine Million weniger als im Zeitraum davor mit 2,4 Millionen Berechtigten und weit entfernt von jenen etwa 4,5 Millionen Personen, bei denen man davon ausgeht, dass sie die Bonus-Kriterien erfüllen. Dazu zählen neben anderen sozial benachteiligten Gruppen insbesondere Rentner, Personen mit weniger als 75% des Median-Einkommens und Familien mit mehr als drei Kindern. Und der Bonus ist mehr als bloß eine symbolische Geste. Wer unter 940 Euro im Monat verdient, bekommt einen Zuschuss von 85 Euro zur jährlichen Stromrechnung. Bei einem Monatseinkommen von unter 470 Euro sind es 137 Euro.

Einige wohlhabende Familien, die mit mehr als drei Kindern eigentlich berechtigt wären, haben möglicherweise trotzdem keinen Antrag gestellt. Andere haben sich vielleicht vom bürokratischen Aufwand abschrecken lassen oder wussten schlicht nichts von dem Programm. Mehr als eine halbe Million hat jedoch auch Ablehnungsschreiben im Briefkasten gefunden. Schuld daran, so glauben einige von ihnen, ist BOSCO, die Software, mit der das spanische Ministerium für Ökologischen Übergang die Anträge bearbeitet und bescheidet.

Fehlfunktionen der Software

Eine Non-Profit-Organisation aus Madrid namens Civio beschäftigt sich bereits seit mehreren Jahren mit dem Sozialbonus. In Kooperation mit der spanischen Wettbewerbsbehörde entwickelte Civio 2018 eine Webseite, die Schritt für Schritt durch das Prozedere der Antragstellung hindurchführt. Nachdem die Organisation mehrfach wegen abgelehnter Anträge kontaktiert worden war, stellte sich heraus, dass die Software offenbar nicht immer zum richtigen Ergebnis kommt. Zum Beispiel hat ein verwitweter Rentner unter bestimmten Umständen auch unabhängig von seinem Einkommen einen Anspruch auf den Bonus. Anscheinend sortiert die Software solche Anträge jedoch von vornherein aus.

Um Näheres zu erfahren, forderte Civio das Ministerium auf, den Quellcode der Software herauszugeben. Anhand dieses Quellcodes will Investigativjournalistin und Civio-Geschäftsführerin Eva Belmonte aufzeigen, dass es sich bei den zu Unrecht abgelehnten Anträgen, die die Organisation gesammelt hat, nicht um Einzelfälle handelt, sondern um systematische Fehler  – von denen die BOSCO-Software möglicherweise noch weitere enthält. Die Software müsse gründlich überprüft werden, schreibt Belmonte in einer Mail, nicht zuletzt, weil staatliche Hilfeleistungen ein besonders sensibler gesellschaftlicher Bereich seien.

Doch der „Consejo de Transparencia y Buen Gobierno“, die spanische Informationsfreiheitsbehörde, hat Civios Ansinnen zunächst zurückgewiesen, mit Verweis auf das Urheberrecht. Mehrfache Nachfragen von AlgorithmWatch, um wessen Urheberrecht es dabei gehe, wurden bis zur Veröffentlichung dieses Artikels nur unkonkret beantwortet. Gegen die Ablehnung der Informationsfreiheitsanfrage hat Civio am 20. Juni 2019 Beschwerde eingelegt. Bleibt sie ergebnislos, kann eine juristische Auseinandersetzung folgen.

Keine klaren Regeln für Quellcode

Obwohl es überall in der Europäischen Union Informationsfreiheitsgesetze gibt, ist die Frage, ob der Quellcode einer von der Verwaltung eingesetzten Software herausgegeben werden darf, weitgehend ungeklärt.

In Frankreich ist die Informationsfreiheitsbehörde bereits 2015 zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei einem solchen Quellcode um ein Verwaltungsdokument wie jedes andere handele und dass deshalb einer Veröffentlichung nichts entgegenstehe. Tatsächlich hat die Regierung daraufhin den Code verschiedener Software-Anwendungen nicht nur veröffentlicht, sondern sogar  Installationsanleitungen veröffentlicht und die Dateien auf einem Open-Source-Git-Server zur Verfügung gestellt. Hingegen kam das Oberste Verwaltungsgericht im Juni 2019 zu dem Schluss, dass ein Algorithmus, mit dem Studienbewerberinnen und -bewerber ausgewählt werden, von der Universität nicht öffentlich gemacht werden muss.

In Deutschland gibt es keine klaren Richtlinien zur Freigabe des Quellcodes von Software der Behörden und Verwaltungen. Für ein gewisses Aufsehen sorgte ein Fall, bei dem ein Bürger den Quellcode des Wahl-o-Mat einsehen wollte. Er bekam die entsprechende Erlaubnis, allerdings nur für sich persönlich, mit Verweis auf urheberrechtliche Gründe. In einem anderen Fall wurde einem Antragsteller erlaubt, den Quellcode einer Computeranwendung zur Wahlkreisauswertung einzusehen. Er musste sich dazu allerdings persönlich ins Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung begeben und den Code am Bildschirm lesen.

Übersetzung: Ilja Braun

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