Entscheiden Algorithmen bald über die Bewilligung von Therapien?

Algorithmen sollen die Medizin revolutionieren. Doch die Technologie noch weit davon entfernt, verlässlich zu arbeiten und automatisierte Systeme als alleinige Entscheidungsinstanz sind mit dem Recht auf Leben und auf Selbstbestimmung nicht zu vereinbaren.

Paweł Czerwiński| Unsplash

Schon seit Beginn der wissenschaftlichen Medizin gibt es Algorithmen, die Ärzt*innen bei der Diagnose und Wahl der Therapie unterstützen. Von der Wundpflege bis zur Abschätzung des Überlebenschancen gibt es tausende solcher Systeme, die auf empirischen, medizinischen oder statistischen Erkenntnisse beruhen.

Auch bekannt sind die Erfolgschancen verschiedener Therapien, und das Auftreten von Nebenwirkungen. Was jedoch oft nicht bekannt war und ist: warum manche Therapien bei der Einen wirken, beim Anderen jedoch nicht, oder wieso die Nebenwirkungen bei Person A ungleich stärker sind als bei Person B.

Dies ändert sich gerade. Rechenkapazitäten von Computern sind in den letzten Jahrzehnten exponentiell angestiegen und öffnen somit die Möglichkeit, riesige Datensätze in Sekundenschnelle zu analysieren, und Genome von Tumorproben zu sequenzieren. Aus der Kombination heraus entwickelt sich die Präzisionsmedizin: verbesserte Krebsbestimmung sowie aus Patientendaten gewonnene Erkenntnisse der Wirksamkeit von Therapien für verschiedene Krebsarten ermöglicht, schnell eine passgenaue Therapie für Patient*innen auszuwählen.

Dies stellt eine wesentliche Verbesserung der bisherigen Situation dar. Bevor aber der „Sieg“ über den Krebs oder gar Krankheiten ausgerufen wird: sowohl bei Diagnose als auch bei Therapievorschlägen handelt es sich immer um Wahrscheinlichkeiten, und nicht um absolute Gewissheit. Ein Algorithmus der Mammographien analysiert kann zum Beispiel sagen, dass es sich mit 95% Wahrscheinlichkeit um eine bestimmte Art von Brustkrebs handelt, dies muss dann aber durch eine Biopsie bestätigt werden – Algorithmen werden hier immer unterstützend sein, nicht entscheidend. Genauso kann ein Therapiealgorithmus dann sagen, dass bei 80% aller Fälle mit dieser Art von Brustkrebs Therapie A sehr gut angeschlagen hat, und dass 85% aller Patientinnen geheilt werden konnten. Aber 100% Gewissheit wird es nicht geben. Präzisionsmedizin bietet aber die Gelegenheit, schneller zu einer Diagnose zu kommen und auch schneller eine Therapie zu finden die auf die Krankheit und die Patient*innen passt.

Damit die Präzisionsmedizin ihre Versprechen auch nur im Ansatz einhalten kann, sind hohe Anforderungen an die Systeme notwendig, unverzerrte und genaue Prognosen zu stellen. Momentane Erkenntnisse über die Wirkung von Medikamenten basieren zu großen Teilen auf den Tests an Männern weißer Hautfarbe. Erst seit 2004 ist in Deutschland es gesetzlich im Arzneimittelgesetz vorgeschrieben (AMG§42(1)), neue Medikamente auf Unterschiede zwischen Geschlechtern zu untersuchen, zu ethnischer Herkunft ist hierzulande noch keine Empfehlung ausgesprochen worden. Big Data stellt hier allerdings auch wieder eine Chance dar: anstatt wie früher die Wirkung von Medikamenten nur in klinischen Studien zu testen gibt es jetzt (theoretisch) die Möglichkeit, aktuelle Daten von Patient*innen mit unterschiedlichen demographischen und biologischen Merkmalen und deren Reaktion auf bestimmte Medikamente zu untersuchen.

Also klingt Präzisionsmedizin erstmal nach Fortschritt, und das ist sie auch. Aber wie jede Neuerungen gibt es auch hier Risiken und Nebenwirkungen, die es zu verhindern gilt.

Zwei Thesen werden hier meist genannt:

Beide Thesen werden in diesem Artikel beleuchtet um Licht ins Dunkel zu bringen. Um es vorwegzunehmen eine ganz klare Antwort gibt es nicht – denn wie so vieles zu diesem Thema lautet die Antwort auf beide Thesen: es ist kompliziert.

These 1 – Algorithmen entscheiden über Bewilligung und Finanzierung von Therapien

Das Szenario ist unheimlich: eine Patientin bekommt die Diagnose Brustkrebs und ein algorithmisches Diagnosesystem bescheinigt, dass eine Therapie bei ihr Erfolgschance von 15% habe. Daraufhin bescheidet ihr die Krankenkasse, dass ihre Therapie nicht mehr finanziert wird, da ihre Überlebenschancen zu gering sind.

Dies wäre natürlich ein schreckliches Szenario, das es in jedem Fall zu verhindern gilt: niemand soll über die Behandlung einer Person bestimmen dürfen, außer der Person selbst, oder in bestimmten Situationen (Kleine Kinder, Patient*innen im Koma, etc) bevollmächtigte Angehörige. Und dies ist in Deutschland sowohl in der gesetzlichen als auch in der privaten Krankenversicherung genau so vorgesehen: Laut Gesetz müssen Krankenversicherungen Therapien, die in ihrem Leistungskatalog ausgewiesen sind, und die von Ärzt*innen angeordnet sind, bewilligt werden.

Der Standardleistungskatalog ist für gesetzliche Krankenversicherungen (GKVs) einheitlich festgelegt, bei den Privaten sind sie im individuellen Vertrag ausgewiesen. Im letzteren Fall decken sie aber auch alle ärztlich verordneten und medizinisch notwendigen Therapien ab.  Was genau von GKVs bezahlt wird, wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss G-BA beschlossen. Ist eine Therapie oder ein Medikament erstmal aufgenommen, kann eine Krankenkasse dies nicht mit Verweis auf geringe Erfolgsaussichten verweigern.  Wenn gar Leben auf dem Spiel steht, müssen die gesetzlichen Versicherungen auch Therapien bezahlen, deren Effektivität noch nicht bewiesen ist und die nicht im Leistungskatalog erfasst sind. Die ärztliche Behandlungsfreiheit wird also großgeschrieben und ist vom Bundesverfassungsgericht bestätigt.

In Bezug auf private Krankenversicherungen sind die individuellen Vertragsbedingungen entscheidend, und somit kann keine allgemeine Aussage getroffen werden. Die Musterbedingungen des Verbands der Privaten Krankenkassen machen jedoch deutlich, dass auch hier die ärztliche Behandlungsfreiheit groß geschrieben wird: „Der Versicherer leistet im vertraglichen Umfang für Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden und Arzneimittel, die von der Schulmedizin überwiegend anerkannt sind. Er leistet darüber hinaus für Methoden und Arzneimittel, die sich in der Praxis als ebenso erfolgversprechend bewährt haben oder die angewandt werden, weil keine schulmedizinischen Methoden oder Arzneimittel zur Verfügung stehen.“ Theoretisch stehen somit privaten Patient*innen mehr Therapien zur Verfügung als gesetzlich Versicherten.

Trotz dieser klaren Grundsätze gibt es natürlich trotzdem Streitfälle, besonders bei medizinischen Hilfsmitteln oder sogenannten off-label Behandlungen. Bei den Gesetzlichen kann der medizinische Dienst der Krankenkassen angerufen werden, bei den Privaten ist es der PKV-Ombudsmann, der vermittelt. Hier wäre es interessant zu wissen, ob der bei der Bewilligung von Hilfsmitteln Algorithmen eingesetzt werden, und ob sie solche Streitfälle verhindern oder deren Klärung unterstützen könnten: Für die Verordnung von Hilfsmitteln (alles, was Menschen im Alltag unterstützen kann, um physische Probleme zu lindern, also Absaugegeräte, orthopädische Einlagen, Rollstühle, Sehhilfen, Sitzhilfen usw.) gibt es Richtlinien, in welchen Fällen sie verordnet werden sollen. Ein Teil dieser Richtlinien könnte sich zur Digitalisierung und somit Automatisierung anbieten um Entscheidungen einheitlicher zu gestalten. Vielleicht sind solche Systeme auch schon im Einsatz – aber keine der fünf größten deutschen GKVs, noch der GKV Spitzenverband, oder der Verband der Ersatzkassen zu der Thematik äußern. Bis Redaktionsschluss waren auch noch keine Antworten von PKVs eingegangen.

Hier ist also ein großes Fragezeichen: werden Algorithmen bei der Hilfsmittelbewilligung eingesetzt, ja oder nein? Das Schweigen der Versicherer ist verwunderlich. Mehr Transparenz wäre hier wünschenswert.

Es bleibt aber als Fazit zu These 1 festzuhalten, dass Algorithmen nicht ärztliche Entscheidungen übertreffen können, und es auch nicht sollen. Eine Abkehr davon ist unrealistisch: Das obengenannten Urteil des Bundesverfassungsgerichts beruft sich auf das im Grundgesetz verankerte Grundrecht auf Leben. Und dass dieses Grundrecht abgeschafft wird ist in keiner Weise abzusehen.

These 2: Algorithmen führen dazu, dass Ärzt*innen die teuersten Therapien wählen und unnötige Leistungen verschreiben

Algorithmische Entscheidungssysteme könnten in Software verarbeitet werden, die Ärzt*innen automatisch die teuersten Untersuchungen und Therapien aufzeigt, mit denen sie ihre Leistungen bei den Krankenversicherungen am lukrativsten abrechnen können. Krankenkassen bzw. Eigenzahlende würden höher belastet, und Patient*innen teils unnütz behandelt werden.

Klingt nicht schön. Manch einer wird dieses Szenario aber wiedererkennen, denn es ist tatsächlich in Deutschland schon Realität – auch ganz ohne ADM-Systeme, vor allem bei privaten Krankenkassen.

Es wird oft beklagt, dass gerade Privatpatient*innen oft unnötigen und teils sogar schädlichen Untersuchungen unterzogen werden, an denen sich die behandelnden Ärzt*innen eine goldene Nase verdienen. Menschen werden akribisch untersucht, dabei findet man fast immer etwas, was man behandeln kann, auch wenn es eigentlich medizinisch nicht notwendig ist. Es gibt keine Zahlen wie viele solcher unnützen Behandlungen stattfinden, es streitet aber auch niemand ab, dass dies der Fall ist. Auch in der Gesetzlichen Krankenversicherung können Ärzt*innen Patient*innen Leistungen verkaufen, die nicht von der Kasse gedeckt werden. Der Sinn und Unsinn dieser Individuellen Eigenleistungen (IGeL) ist umstritten, so zum Beispiel die Augenninnendruckmessung zur Glaukomafrüherkennung.

In beiden Versicherungssystemen gibt es also Potential, Patient*innen Leistungen zu verkaufen, die nicht notwendig sind. Ärzt*innen, deren Berufsauffassung sich an so etwas nicht stört, werden neuen Möglichkeiten der Einkommensmaximierung immer nutzen. Eine Software, die ihnen dabei helfen kann, wäre gefundenes Fressen. So eine Software könnte die ähnlich wie Amazons Empfehlungsalgorithmen Krankenakten analysieren und basierend auf existierenden Behandlungen Ärzt*innen vorschlagen, was einzelnen Patient*innen angeboten werden soll. Customer profiling gibt es ja schon überall, warum nicht im Gesundheitsbereich? Gerade für Privatpraxen könnte so eine Software lukrativ sein, da sie höhere Sätze verlangen können. Die Einnahmen der Kassenpraxen hingegen sind durch die einheitliche Vergütung ärztlicher Leistungen sowie durch Quartalsbudgets viel stärker begrenzt, Zusatzeinkommen könnten nur über IGeLs oder Eigenzahler erzielt werden.

Ob es solche Software bereits gibt, ob sich die Anschaffung für Praxen rechnet, und ob das überhaupt legal ist, ist unklar und kann innerhalb dieses Artikels auch nicht beantwortet werden. Überbehandlungen sind jetzt schon ein Thema und deshalb sollten gerade private Versicherer sich überlegen, wie sie dem entgegenwirken können. Aber auch Eigenzahler und die Versicherten, egal ob gesetzlich oder privat, sollten nicht jeder Maßnahme zuzustimmen ohne sich über deren Sinn und Unsinn genau zu informieren. Informationsangebote wie der IGeL-Monitor spielen hier eine wichtige Rolle.

Fazit also für These 2: Schon jetzt gibt es für Ärzt*innen Anreize, ihren Patient*innen unnötige Untersuchungen verkaufen zu wollen. Dies kann durch gezielte auf Algorithmen basierende Bewerbung von Leistungen angepasst auf ein Patient*innenprofil noch verstärkt werden – es ist aber nicht klar, ob sich so etwas für Praxen lohnen würde und ob es legal ist. Die Abrechnung teurer und unnötiger Therapien und Untersuchungen ist bereits jetzt vor allem in der PKV ein Problem. Moderne Diagnoseverfahren, die sich teils algorithmischer Systeme bedienen, könnten dies noch verschärfen. Hier sind PKVs und Aufsichtsbehörden gefragt, dem Einhalt zu gebieten ohne das Potential der Präzisionsmedizin zu beschädigen.

Für beide Thesen gilt: der Teufel steckt im Detail. Wir bewegen uns in einem Bereich, in dem viel versprochen wird, aber noch wenig umgesetzt wird. Die Zahl der diagnostischen Verfahren, die als Medizinprodukte zugelassen sind, ist überschaubar. Der G-BA gab an, dass er noch keinen Antrag bekommen hat, eine Algorithmen-basierte Leistung in den Katalog aufzunehmen. Das heißt nicht, dass in Zukunft hier nichts nachkommt – aber es erklärt auch, warum nicht präzise gesagt werden kann, wie und wo Algorithmen eine Rolle spielen. Existierende Grundrechte, wie das Recht auf Leben, dienen als gute Grundlage für die Abschätzung. Welche Chancen und Probleme im Bereich der Hilfsmittel oder auch Therapieauswahl entstehen können, ist aber ohne größere Transparenz der Versicherer nicht festzustellen. Hier soll und muss ein breiterer gesellschaftlicher und politischer Diskurs stattfinden.

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