Automatisierte Tarifgestaltung in der Krankenversicherung – Schreckgespenst oder plausibles Szenario?

Die Idee des „Gläsernen Patienten“ geistert immer wieder durch die Medien, befeuert durch neue Möglichkeiten, die Gesundheit durch Smartwatches, Fitnesstracker und Apps zu überwachen. Das Schreckensszenario: Wer sich dem entzieht, muss um seine Krankenversicherung fürchten. Doch was ist da dran – werden in Zukunft tatsächlich nur diejenigen versichert, die sich umfassend durchleuchten lassen?

Story

6. Juni 2019

#publicsector

Luke Chesser / Unsplash (bearbeitet)

Krankenkassen interessieren sich für Daten, die durch Fitnesstracker und andere so genannte „Wearables“ erhoben werden. Bonusprogramme in der gesetzlichen wie in der privaten Krankenversicherung ködern Kund*innen damit, der Krankenversicherung Daten und Aktivitäten mitzuteilen. Im Gegenzug dazu bekommen die Versicherten dann einen Yogakurs spendiert oder können ihre Punkte für eine professionelle Zahnreinigung verwenden.

Der Gedanke, der diesen Bonusprogrammen zugrunde liegt, ist einfach: Je gesünder die Kund*innen, desto weniger Kosten verursachen sie. Und es ist allemal billiger für eine Krankenversicherung, Yogakurse zu bezahlen statt Krankenhausaufenthalte. Ob solche Bonusprogramme Krankenhausaufenthalte verhindern können oder überhaupt fair sind für diejenigen, die aus gesundheitlichen Gründen von vornherein nicht an solchen Aktivitäten teilnehmen können, ist ein anderes Thema.

Angesichts der neuen Möglichkeiten, die eigene Gesundheit zu vermessen und diese Daten der Krankenversicherung zugänglich zu machen, liegt die Frage nahe, ob dies auch dazu verwendet werden kann, unsere Tarife an unseren Gesundheitsstatus anzupassen. Wer ein paar Kilo zu viel auf die Waage bringt oder zu hohe Cholesterinwerte hat, zahlt extra, bis sich die Werte wieder ‚normalisiert‘ haben. Rein technisch ist das möglich: Die Bluetooth-Waage übermittelt die Daten an die Versicherungs-App, die Blutwerte werden vom Labor in die elektronische Patientenakte gespeichert, auf die die Versicherung zugreifen kann.

Die Verlockung könnte also groß sein, durch Zuckerbrot und Peitsche die Kundschaft auf Norm zu trimmen.  Doch so einfach ist es nicht. Gesundheit bildet sich nicht einfach im Body-Mass-Index ab, und genetische Veranlagung kann bedeuten, dass man noch so gesund essen kann, die Cholesterinwerte oder das Gewicht aber trotzdem ‚zu hoch‘ sind. Das macht einen Menschen nicht gleich krank. Trotzdem könnte man sagen: Dieser Mensch hat ein höheres Risiko, daher muss er mehr bezahlen.

Bekommen wir also bald maßgeschneiderte Tarife in der Krankenversicherung? Werden Algorithmen vorherzusagen, welches Krankheitsrisiko in uns schlummert, und wird dieses Risiko dann als Grundlage für die Berechnung unserer Krankenversicherungstarife verwendet? Könnte uns gar die Versicherung verwehrt werden?

Auf die letzte Frage ist die Antwort klar: Nein. Seit 2009 herrscht in Deutschland die Allgemeine Versicherungspflicht, der alle legal in Deutschland lebenden Personen unterliegen. Man muss sich versichern und die, die das aus finanziellen Gründen nicht können, erhalten Hilfe vom Staat. Die meisten Menschen würden in so einem Fall in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert. Personen, die aus verschiedenen Gründen privat versichert bleiben wollen oder nicht in die GKV wechseln können, müssen von Privaten Krankenversicherungen (PKV) in einem Basistarif versichert werden. Dies gilt auch, wenn eine Vorerkrankung vorliegt. Dieser Basistarif muss den Leistungsumfang einer GKV haben und darf nicht teurer als der maximale GKV-Tarif sein. Sind diese Beiträge dennoch zu hoch, werden sie durch Zuzahlungen aus der Sozialkasse unterstützt. Für Menschen mit hohen Beitragsschulden in der PKV gibt es seit 2013 den Notlagentarif.

Solange diese Versicherungspflicht gilt, werden algorithmische Systeme nicht darüber entscheiden, ob wir krankenversichert sind oder nicht.

Wie sieht es aber mit der Tarifberechnung aus? Könnte diese in Zukunft davon abhängen, welches Risiko wir für die Krankenversicherung darstellen?

Die Antwort hier ist komplizierter und betrifft nur die private Krankenversicherung. In der gesetzlichen Krankenversicherung herrscht das Solidaritätsprinzip. Es gibt zwar Unterschiede, etwa bei Zuzahlungen für Brillen, die einkommensabhängig sein können, aber im Prinzip gilt: Alle Mitglieder zahlen einen gleichen Prozentsatz ihres Einkommens ein und bekommen die gleichen Leistungen. Vorerkrankungen oder genetische Risiken spielen keine Rolle. Ohne eine Abschaffung dieses Prinzips besteht keine Möglichkeit für GKVs, Menschen aufgrund ihrer Risikoprofile abzulehnen oder Tarife zu verändern. Es gibt derzeit keine ernst zu nehmenden Forderungen, das zu ändern.

In der PKV herrschen andere Bedingungen; teils sind sie betriebswirtschaftlich gegeben, teils vom Staat.

PKVs können nach Risiko unterscheiden; bisweilen müssen sie es auch. Kurz gesagt: Frau Müller soll nicht dafür zahlen müssen, dass Herr Hofer durch seine Raucherei Lungenkrebs bekommt. Ein Risikoausgleich lässt sich aber völlig vermeiden, denn nur so funktionieren Versicherungen: Viele Menschen zahlen regelmäßig Beiträge in einen Fonds ein, damit Einzelne im Schadensfall daraus Kosten decken können. Alle haben Anspruch auf Leistungen. Würde man Einzelpersonen versichern (also ohne jeden Risikoausgleich), müssten diese alle zu erwartenden Kosten für sich abdecken – im Vorhinein.  Nehmen wir zum Beispiel an, Herr Hofer bekäme Lungenkrebs. Die Behandlung kann um die 20.000 Euro kosten. Sollte Herr Hofer wieder genesen, kann er sich weiterhin darauf einstellen, dass er in seinen letzten drei Lebensjahren ungefähr 40.000 Euro medizinische Kosten abdecken müsste. Er müsste also 60.000 Euro vorstrecken, denn auf andere Rücklagen könnte die Versicherung ja nicht zugreifen.

Ein solches Vorgehen würde aber ohnehin dem Prinzip der Versicherung widersprechen, das gerade darauf beruht, dass Einzelne nicht ihr gesamtes Risiko selbst schultern müssen. Um das zu ermöglichen, braucht jede Versicherung eine Form von Ausgleich. In der PKV geschieht dies über die Einteilung der Kund*innen in Alterskohorten. Je Altersgruppe werden die Tarife so festgelegt, dass die gebildeten Rücklagen die durchschnittlich zu erwartenden medizinischen Leistungen eines Menschen dieser Altersgruppe abdecken. Zur Prämie hinzu kommen noch Krankentagegeld, Pflegeversicherung, und Rücklagen für das Rentenalter. Durch diese sollen Prämien im Alter weniger stark oder gar nicht steigen, um das geringere Einkommen nicht zu sehr zu belasten. Die Tarifhöhe hängt auch vom Umfang der Zusatzleistungen ab, also etwa der Höhe des Selbstbehalts, oder ob man im Krankheitsfall in einem Zweibettzimmer untergebracht werden möchte. Seit 2012 ist die Unterscheidung nach Geschlecht verboten.

Also könnten algorithmische Systeme hier gar nicht viel verfeinern, weil es das Geschäftsmodell einer PKV zerstören würde? So einfach ist es dann doch nicht. Denn es gibt noch die Risikozuschläge.

Nehmen wir diesmal als Beispiel Frau Müller. Sie war bis zum Ende ihres Studiums bei ihren Eltern privat mitversichert und macht sich jetzt als Softwareentwicklerin selbständig. In die GKV kann sie nicht, also stellt sie einen Antrag bei der Gesundkasse AG (GAG). Als Kind hatte sie Leukämie, die aber völlig ausgestanden ist. Ansonsten ist sie gesund, raucht nicht, treibt Sport und nimmt keine Medikamente ein. Die Gesundkasse nimmt ihren Antrag an, berechnet aber einen Risikozuschlag von 60 Euro wegen der Leukämieerkrankung. Die GAG geht davon aus, dass Frau Müller ein höheres Risiko als der Durchschnitt hat, noch einmal an Krebs zu erkranken.

Klingt ungerecht? Ist es auch, denn es ist ja nicht gesagt, dass der Krebs wiederkommt – aber Versicherungen gehen lieber auf Nummer sicher. Frau Müller fügt sich dem, denn andere PKVs verlangen das gleiche. Außerdem verdient sie gut, deshalb sind die Prämien von ungefähr 500 Euro monatlich auch locker tragbar.

Ob der Zuschlag eine realistische Gefahr abbildet oder ob Krankenversicherungen hier einfach nur extrem risikoscheu sind, ist nicht klar, denn die Privaten müssen darüber keine Auskunft geben. Durch Algorithmen könnten sich Krankenversicherungen aber theoretisch einen neuen Wettbewerbsvorteil schaffen: Eine PKV, nennen wir sie die Individuelle Risikokrankenkasse (IRK) wirbt damit, dass ihr Algorithmus Exactorisk viel genauer in der Risikoabschätzung ist als herkömmliche Verfahren. Der Algorithmus erkennt bei Frau Müller kein erhöhtes Risiko, also kann sie sich die 60 Euro sparen und geht zur IRK. Andere tun es ihr gleich, und die IRK erfreut sich eines gesunden, jungen Kundenstamms. Lange hat sie den Vorteil aber nicht, denn andere PKVs ziehen natürlich mit eigenen Algorithmen nach. Viele können sich so an niedrigen Tarifen freuen. Der Gruppe mit erhöhtem Krankheitsrisiko hingegen entsteht ein großer Nachteil: Sie zahlen in diesem Szenario mehr – wieviel mehr, lässt sich nicht sagen. Die allgemeine Versicherungspflicht stellt zwar sicher, dass niemand aus dem Schutz herausfällt, aber es kann zu einer höheren finanziellen Belastung kommen. Es könnte auch sein, dass Tarife allgemein steigen, denn wenn das Individualrisiko bei einigen Kund*innen bei Vertragsabschluss niedriger sein mag, ist es nicht klar, wer von ihnen in Zukunft doch krank – und damit teuer – wird, etwa durch einen Unfall, oder weil sie an Parkinson, Multipler Sklerose oder ähnlichem erkranken. Solche Eventualitäten müssen auch in Tarife eingepreist werden.

Wie sieht es mit einer Anpassung im laufenden Tarif aus? Kann eine Krankenversicherung Risikozuschläge verlangen, weil jemand zu- oder abgenommen hat, das Rauchen anfängt, oder krank geworden ist? Prinzipiell nein, es gibt jedoch Ausnahmen. Per Gesetz ist darf ein Risikozuschlag nur beim ersten Abschluss eines Vertrages erhoben werden. Eine Ausnahme ist ein Tarifwechsel mit Mehrleistungen. Für diese Mehrleistungen dürfen neue Risikozuschläge ermittelt werden.

Das Fazit: Bei bestehender Gesetzeslage haben nur private Krankenversicherungen die Möglichkeit, durch Algorithmen ihre Risikoberechnungen zu verfeinern und entsprechend Zuschläge zu verlangen. Gesetzlichen Krankenkassen ist das nicht möglich.

Die Tarife der PKVs werden schon heute von vielen als Dschungel empfunden, und die Frage, ob Risikozuschläge für Kinderkrankheiten bei Erwachsenen gerechtfertigt sind, stellt sich bereits jetzt. Durch algorithmisch gesteuerte Systeme (vor allem selbstlernende, deren genaue Funktionsweise gar nicht oder nur von Expert*innen nachvollzogen werden kann), könnten diese Berechnungen noch intransparenter werden.

Es gilt also auch hier die Forderung: Es muss klar sein, zu welchem Zweck derartige Systeme eingesetzt werden, es muss nachvollziehbar sein, wie sie zu ihren Ergebnissen kommen, und es muss wirksame Widerspruchsmöglichkeiten gegen algorithmischen Entscheidungen geben, gerade bei einem so wichtigen Thema wie der Gesundheit. Der gesellschaftliche Konsens ist, dass niemand für seine Gesundheit (oder mangelnde Gesundheit) bestraft werden soll. Dieser darf nicht durch eine algorithmische Hintertür aufgeweicht werden.

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