Grenzwertige Drohn-Gebärden: Griechenlands EU-finanzierte Überwachungstechnik

Die griechische Einwanderungsbehörde hat angekündigt, dass EU-finanzierte „KI-Drohnen“ fortan Migrant*innen beim Überqueren der Grenze aufspüren sollen. Sie sollen auch bei Such- und Rettungsaktionen eingesetzt werden, aber das eher theoretisch.

Bei der Eröffnung der Internationalen Handelsmesse in Thessaloniki, die im September 2022 stattfand, hatte der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis etwas anzukündigen. Sonst ist er eher dafür bekannt, die kaum zu übersehenden Beweise für brutale Übergriffe des griechischen Grenzschutzes gegen Asylsuchende als „Fake News“ abzutun. Jetzt stellte er aber das neueste Projekt seines Ministeriums vor: den mit 3,7 Millionen Euro von der EU geförderten Einsatz von Drohnen, deren „innovative Algorithmen“ automatisch definierte Zielobjekte an der griechischen Grenze identifizieren können.

Was soll das heißen? In einem Beispielvideo bewegen sich zwei Männer – einer mit Sonnenbrille und rotem T-Shirt, ein anderer verpixelt – in Nähe einer Linie, die auf den Boden gezeichnet ist. Sie werden jeweils in einem Kästchen als „Person“ gekennzeichnet. Als sich der Mann mit der Sonnenbrille der Linie nähert, ändert sich die Bezeichnung in dem Kästchen zu „Person von Interesse“. Er läuft los, springt über die Linie, rennt weiter, versteckt sich hinter einer Bank. Als er wieder aufsteht und sichtbar wird, heftet sich das Kästchen wieder an seine Fersen.

EU-Finanzmittel für griechische Sicherheitsprojekte

„Ich habe in dem Video Leute aus meiner Abteilung wiedererkannt“, sagte mir kichernd ein IT-Experte am Stand des griechischen Ministeriums für Migration bei der Messe in Thessaloniki.

Seine Abteilung ist das Institut für Informationstechnologien am „Center for Research and Technology Hellas“ (CERTH). Es befindet sich in einem ruhigen Gebäude am Rand von Thessaloniki. Wissenschaftler*innen arbeiten hier an 27 Projekten, die größtenteils von der Europäischen Kommission finanziert sind.

Die erste Förderung erhielt CERTH 2017 für ein EU-Sicherheitsprojekt. Im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms „Horizon 2020“ wurde CERTH beauftragt, das ROBORDER-Programm zu koordinieren. Aus dem mit 8 Millionen Euro dotierten Entwicklungs- und Pilotprojekt sollte ein vollautomatisches Grenzüberwachungssystem hervorgehen, in dem Roboter Menschen identifizieren und selbstbestimmt entscheiden, ob sie eine Bedrohung darstellen. Die an der Forschung beteiligten Wissenschaftler*innen sahen durchaus die Gefahr, dass ihre Technologie für militärische Zwecke missbraucht werden könnte. Die CERTH-Wissenschaftler*innen freuen sich inzwischen aber über die große Nachfrage, die seitens der EU-Institutionen an „Sicherheitsprojekten“ besteht.

REACTION

CERTH koordiniert nun REACTION, eine „Echtzeit-KI zur Grenzüberwachung”, ebenso von der Europäischen Kommission gefördert, genauer gesagt aus dem Fonds für Migration und innere Angelegenheiten. Es startet im November 2022 und wird 36 Monate dauern. 

Der Informatiker Stathes Hadjiefthymiades gehört zum REACTION-Team. Er sagte mir, dass es sein Ziel sei, die Forschungsergebnisse aus ROBORDER und AIDERS zusammenzuführen. Beim ebenso von der EU finanzierten Projekt AIDERS ging es darum, Daten zu verarbeiten, die die Sensoren und Kameras von Drohnen liefern. Dadurch sollen in Fällen von Bränden, Schiffsbrüchen oder Überflutungen schneller und effektiver Rettungsaktionen durchgeführt werden können. Wenn Stathes Hadjiefthymiades von den Features dieser Technologien spricht, nennt er sie „Schmankerl“. Nichtsdestotrotz möchte er sie in die Hände der griechischen Grenzpolizei übergeben, die Drohnen dafür einsetzen will, bei Grenzübertritten alarmiert zu werden. Sie sollen die bereits an der Grenze installierten Wärmesensoren, Bewegungsmelder und Kameras ergänzen.

Die Grenzpolizei werde den Grenzübertritt nach Griechenland nicht unbedingt verhindern, erklärt Stathes Hadjiefthymiades. Die Menschen könnten ebenso nach dem Grenzübertritt verhaftet und interniert werden, um ihnen dann zu zeigen, wie das Asylantragsverfahren abläuft. Er glaube nicht daran, dass die Menschen an der Grenze abgewiesen oder sogar Boote mit Asylsuchenden von der Grenzpolizei wieder zurück zur Türkei eskortiert werden, worüber in den Nachrichten berichtet wird. Amnesty International sagt über dieses Verfahren, dass es de facto Griechenlands Grenzpolitik sei.

„Innovative Algorithmen“

Der Migrationsminister Notis Mitarakis hielt auf Handelsmesse in Thessaloniki eine Rede. Darin sagte er, dass durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz beim REACTION-Programm Drohnen Ziele identifizieren und überwachen könnten. Ein junger Mann aus dem Forschungskonsortium erzählte mir allerdings daraufhin, dass das Migrationsministerium nicht wirklich wisse, was in der Forschungsabteilung getan werde. Das Ministerium habe für ihn den Status eines fachfremden „Endnutzers“.

Am Stand des griechischen Ministeriums für Migration waren drei Drohnen zu besichtigen. Zwei davon waren Produkte des chinesischen Drohnenherstellers DJI. Die dritte war von Kabeln umschlungen. Ein Präsentator erklärte dazu, dass sie das tue, was der Migrationsminister geschildert habe: Sie scanne einen Bereich und falls sie etwas „Interessantes“ wie eine*n Grenzübergänger*in finde, ändere sie selbstständig ihren Kurs, um diese Person zu überwachen. Allerdings sei dies noch die einzige Drohne dieser Art, da die Integration der nötigen Betriebssysteme sehr teuer und stromintensiv sei. Stathes Hadjiefthymiades bestätigte mir, dass sein Team an verkleinerten Drohnen mit einem reduzierten Stromverbrauch arbeite. Mit handelsüblichen Drohnen sei es schwer, KI-Software in die Betriebssysteme zu integrieren.

In der Begleitbrochüre zu REACTION beschreibt das griechische Migrationsministerium das Ziel des Projekts: Die EU-Finanzmittel sollen dazu genutzt werden, Ausrüstung für das „Grenzprojekt“ zu beschaffen.

Such- und Rettungsdienste

Der junge Mann aus dem Forschungskonsortium zeigte volles Vertrauen in die Grenzpolizei: Nachdem sie darüber informiert wird, dass eine Person oder ein Fahrzeug die griechische Grenze überschritten hat, werde sie eben schauen, was da vor sich geht. Eine Frau hörte das und fiel ihm verärgert ins Wort: „Ich kann Ihnen sagen, was die Polizei tun wird. Sie wird sich entweder bewaffnen, um im Zweifelsfall zu schießen, oder sie wird auf die Menschen einprügeln. Später gab der Mann zu, dass er keine Ahnung habe, was die Polizei mit Migrant*innen macht, die über die Grenze kommen. Er zog eine Grimasse und meinte: „Was kann ich schon daran ändern?“

Ich sprach ihn darauf an, wie genau bei REACTION daran gearbeitet werde, Such- und Rettungsdienste zu optimieren, also die Ergebnisse aus dem AIDERS-Projekt weiterzuentwickeln. Er meinte, dass am CERTH im Multimedia Knowledge Lab ein Algorithmus trainiert werde, um im Grenzgebiet Verletzte zu finden. Daraufhin wandte ich mich an den dortigen Foschungsleiter Yiannis Kompatsiaris. Er sagte mir, dass solch ein Training derzeit in seinem Labor nicht stattfinde.

Die griechische Küstenwache wurde wie andere europäische Behörden in den vergangenen Jahren wiederholt beschuldigt, Rettungseinsätze zu verschleppen. Die Deutsche Welle veröffentlichte Anfang September einen Bericht, dem zufolge griechische Behörden eine Gruppe von 38 Asylsuchenden wochenlang auf einer kleinen Insel in der griechisch-türkischen Grenzregion sitzenließen – trotz wiederholter Hilferufe und übermittelter GPS-Daten zu ihrem Standort. Obwohl sich ein Mast mit Wärmesensoren und Kameras in der Nähe der Asylsuchenden befand, behaupteten die griechischen Behörden, die Gruppe nicht lokalisieren zu können. 

Der Open-Source-Investigativjournalist Phevos Simeonidis verfolgt seit 2017 lokale und EU-finanzierte Grenzüberwachungsprojekte in Griechenland. Bislang, so sagt er, habe der immer größer werdende Apparat bei Such- und Rettungsdiensten versagt. Außerdem dürfe niemand damit rechnen, dass die Technik dazu eingesetzt wird, durch Bildaufnahmen oder Daten zu beweisen, dass Menschenrechtsverletzungen stattgefunden haben.

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